Geschichtsschreibung bei Kühne+Nagel: Des Patriarchen alternative Fakten
Der Mehrheitsaktionär des Logistikers Kühne+Nagel nennt die Kritik am Umgang mit der NS-Geschichte des Unternehmens „verzerrt“. Eine Erwiderung.
Bremen taz | Klaus-Michael Kühne ist nicht zu beneiden. Erst steigt der von ihm persönlich gesponserte HSV ab, wo man seine taktischen und personellen Ratschläge nicht ausreichend berücksichtigen wollte. Und jetzt erwähnt der Bremer Weser-Kurier auch noch die NS-Vergangenheit von Kühnes Logistikkonzern. Zwar nur in zwei Absätzen eines ganzseitigen Interviews, aber früher und für lange Zeit hätte – und hatte – es solche Fragen nicht gegeben.
Kühne ist tatsächlich – und ganz im Ernst – nicht zu beneiden. Als Erbe einer strengen Unternehmer-Dynastie, in der der Erfolg von Firma und Familie als eins betrachtet wird, ist es nicht einfach, kritische Distanz zur Vorgängergeneration zu entwickeln. Viel leichter ist es für einen modernen Aufsichtsratsvorsitzenden, das Geschäftsgebaren seiner Vorvorvorgänger in der NS-Zeit erforschen zu lassen. Das Handeln des eigenen Vaters und Onkels der Bewertung von externen Experten anheim zu stellen, ist eine substanziell komplexere Situation. Dennoch ist es inakzeptabel, dass Kühne, wie jetzt wieder, die historische Rolle seiner Firma weiterhin relativiert und sich als Opfer einer „verzerrten Darstellung“ geriert.
Zur Erinnerung: Kühne + Nagel bemühte sich erfolgreich um eine zentrale Rolle beim Abtransport jüdischen Eigentums zur weiteren „Verwertung“. Die Internationalisierung der Firma erfolgte in den Fußstapfen der Wehrmacht. Das Netz von Niederlassungen in den eroberten Ländern diente als logistische Grundlage der Beraubung, parallel entwickelte das Unternehmen das Geschäftsfeld der Militärlogistik – in dem es bis heute eine führende Rolle spielt. Mit anderen Worten: Kühne + Nagel verdankt seinem Engagement in der NS-Zeit bis heute wesentliche Entwicklungsimpulse.
Bemerkenswert ist zunächst Kühnes zeitliche Zuordnung: Wann eine historische Aufarbeitung der Firmengeschichte angemessen gewesen wäre? „Ich hätte“, sagt er im Interview, „dafür Verständnis gehabt, wenn man sich nach dem Krieg damit befasst hätte, in den 50er-, 60er- Jahren“ – nicht aber, „nachdem so viel Zeit vergangen war“. Da habe er es „überraschend“ gefunden, „dass dieses Thema wieder auf den Tisch kam“.
Wer nicht nicht über das Wort „wieder“ stolpert, mag das plausibel finden. Aber will Kühne ernsthaft behaupten, Historiker, die sich in den 50er-Jahren für die Firmengeschichte interessiert hätten, hätten etwas anderes erhalten als die harschen Dreizeiler, mit denen Kühne + Nagel heutzutage auf fachliche Anfragen reagiert? Die Kühnes taten „nach dem Krieg“ alles andere, als sich um moralische Aspekte von NS-Profiten zu kümmern: Mit umfangreichen Eingaben und anwaltlicher Unterstützung setzten Alfred und Werner Kühne alles daran, als „nur nominelle Parteimitglieder“ durchzugehen – womit sie letztlich Erfolg hatten.
Aktivisten und Nutznießer
Dass sie bereits am 1. Mai 1933 Aufnahmeanträge stellten, dass sie eine Werksbibliothek voller Nazi-Literatur einrichteten, dass ihre Firma 1937 mit dem kurz zuvor eingeführten „Gau-Diplom“ als „nationalsozialistischer Musterbetrieb“ ausgezeichnet wurde, eine Auszeichnung, die Kühne + Nagel ab Kriegsbeginn 1939 jährlich erhielt: Wegen all dieser Fakten hatte der zuständige Prüfungsausschuss Werner Kühne, der selbst auf „unbelastet“ plädiert hatte, zunächst als „Aktivisten und Nutznießer“ klassifiziert. Als „Aktivist“ galt, „wer durch seine Stellung oder Tätigkeit die nationalsozialistische Gewaltherrschaft wesentlich gefördert hat“ – die zweithöchste Belastungskategorie.
Klaus-Michael Kühne bekundet im „Weser-Kurier“-Interview „Überraschung“ über das Interesse an der NS-Zeit
Warum durften die Kühnes zum 1. Juli 1948 dennoch wieder die Geschäftsführung übernehmen? Im Bremer Staatsarchiv liegt ein als „TOP SECRET“ gekennzeichnetes Dokument vom 17. Februar 1948: Die in Herford stationierte „HQ Intelligence Division“ schrieb an das Bremer Entnazifierungskomitee: „It is considered vital for operations which are already on hand, that Mr. Alfred KUHNE be denazified in such a category so that he is able to retain his business.“
Diese als von vitaler Wichtigkeit bezeichneten „operations“, wegen derer Kühne die Rückkehr in seine Firma zu ermöglichen sei, waren geheimdienstlicher Natur. Es ging um die Arbeit der von den US-Behörden gegründeten „Organisation Gehlen“. Diese mit NS-Spezialisten gespickte Vorgängerinstitution des Bundesnachrichtendienstes wollte die Niederlassungen des Logistikkonzerns in Bonn, Bremen und München zur Tarnung wichtiger Mitarbeiter nutzen. Offenbar zugunsten dieses Deals wurden beide Firmenchefs vom Entnazifizierungskomitee letztlich zu bloßen „Mitläufern“ herabgestuft.
Zurück zu der Frage, wie die Kühnes mit ihren NS-Profiten umgingen: In den Entnazifizierungsakten finden sich neben Dokumenten über erhebliche Gehaltssprünge auch mehrere Auflistungen von Immobilien, die die Kühnes bis kurz vor dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ unter anderem in Lübeck, Leipzig und Hamburg erwarben; noch im März 1945 in Hamburg-Blankenese.
Privat residierte ein Teil der Familie ab 1938 in einem feudalen „arisierten“ Anwesen, der Villa Lichtensee in Hoisdorf bei Hamburg. Zuvor hatte es den Erben des bekannten jüdischen Industriellen Hugo Hartig gehört. Welches „Verständnis“, um wiederum Klaus-Michael Kühne zu zitieren, zeigte die Familie nach dem Krieg für die Entschädigungsansprüche der Hartigs? Nicht die mindesten. Stattdessen prozessierten die Kühnes bis 1952 mit unnachgiebiger Härte um den Besitz, den sie zu kaum einem Viertel des Verkehrswertes erhalten hatten.
Kühne gibt sich überrascht
In den von Kühne angesprochenen 60er-Jahren, in denen man sich ihm zufolge noch legitimerweise um die Vergangenheit hätte kümmern können, trug er im Übrigen schon selbst einen Großteil der Verantwortung: seit 1963 als persönlich haftender Gesellschafter und Teilhaber, seit 1966 als Vorstandsvorsitzender. Seit dem Krieg brachte die Firma verschiedene Unternehmenschroniken heraus. Wer sich für „verzerrte Darstellungen“ interessiert: Darin findet man viele.
So viel zur Faktenlage, die Kühne nur eingeschränkt zur Kenntnis nimmt. Positiv ist immerhin, dass er mittlerweile nicht mehr infrage stellt, dass seine Firma für den NS-Staat „Güter jüdischer Eigentümer transportierte“. Umso erstaunlicher ist die nun bekundete „Überraschung“ darüber, dass die NS-Geschichte des Konzerns ab 2015 kritisch thematisiert wurde – zunächst von der Bremer taz, dann auch bundesweit und darüber hinaus: Es war die Firma selbst, die ihre Geschichte, arg geschönt, in den Mittelpunkt der umfangreichen Veranstaltungen zum 125. Firmengeburtstag stellte.
Kein Journalist hatte in den Gelben Seiten geblättert, um ein zu investigierendes Unternehmen zu suchen – es genügte ein Gang über den Bremer Marktplatz, wo Kühne sein Jubiläumsjahr mit umfangreichem History-Marketing einläutete. Die 30er- und 40er-Jahre kamen dabei allzu kurz vor: als „schwere Kriegszeit“. Als die taz bei der Unternehmenskommunikation nachfragte, ob es da nicht doch etwas mehr als nur Mühsal gegeben habe, war die Antwort: „Diesen Zeitperioden mangelt es an Relevanz für die Firmengeschichte.“ Zudem seien alle entsprechenden Geschäftsakten verbrannt. Muss man sich da über weitere Recherchen wundern?
Dass alles im Krieg verbrannt sei, bemüht Kühne immer noch, auch im aktuellen Interview mit dem Weser-Kurier. Der Bremer Firmensitz wurde in der Tat am 6. Oktober 1944 zerbombt, aber bereits 1943 hatte K + N sein Zentralkontor zunächst nach Regensburg, dann nach Konstanz verlagert. Zurecht hatte man angenommen, dass Konstanz aufgrund der Nähe zur Schweizer Nachbarstadt Kreuzlingen nicht bombardiert werden würde. Das „Verzeichnis Deutscher Wirtschaftsarchive“ weist ein „Firmenarchiv Kühne + Nagel“ aus: mit Beständen ab 1902 und der Inhaltsangabe „Urkunden, Akten, Protokolle, Geschäftsberichte, Druckschriften, Fotos etc. Benutzung nur mit Genehmigung der Geschäftsleitung“.
Klaus-Michael Kühne ist nicht zu beneiden. Aber er hat Handlungsoptionen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül