Geschichte des modernen Sports: Metzger gegen Hutmacher
Mit der Französischen Revolution fing im Sport vieles an: Zeitmessung, breite Teilhabe und lustige Siegprämien. Das hatte demokratisches Potenzial.
Der schnellste Reiter erhielt als Prämie ein neues Pferd, dem Zweitplatzierten wurde ein Pistolenpaar überreicht. Eine bemerkenswerte Symbolik war das, die am 28. Juli 1796 auf dem Pariser Marsfeld etwas begleitete, das man den Beginn modernen Sports nennen kann. Der Sieger des Rennens, das nach dem damaligen Revolutionskalender am 11. Thermidor stattfand, war ein Mann namens Vilate-Carbonel, der auf „Le Veneur“ gewonnen hatte, hinter ihm kam Henry Francony auf „Azor“ ein – wofür er den Pistolensatz erhielt.
Am ersten Tag, den 27. Juli, verhinderte schlechtes Wetter hohe Besucherzahlen des Festes, aber am zweiten Tag kamen so viele Menschen zusammen wie seit 1790 nicht mehr: über 150.000, manche Quellen berichten von bis zu 300.000 Menschen. Sie sahen auf dem Marsfeld auch vier Laufwettbewerbe, in denen letztlich ein Sieger ermittelt wurde: Zwei Männer, von denen wir nur wissen, dass es die „Bürger Tourton und Bocher“ waren, kamen zeitgleich ein, aber die Verantwortlichen ernannten Tourton zum Ersten und Bocher zum Zweiten. Preise für die Läufer: ein Säbel und eine Pistolenstütze.
Ort des Ganzen war ein Stadion, wo heute der Eiffelturm steht. Zwei Zuschauertribünen waren gegenüber aufgestellt, es war insgesamt etwa 800 Meter lang. In der Mitte fand sich ein Hügel, der als Bühne etwa für Theateraufführungen diente. „Die Laufbahn verlief normalerweise von der École Militaire bis zum Fuße des Hügels, ungefähr 300 Meter, während Pferderennen unmittelbar um ihn herum verliefen, eine Strecke von ungefähr 1.800 Metern“, schreibt der britische Historiker Hugh Farey.
Das Fest war ein riesiger Erfolg, schon zwei Wochen später wurde es wiederholt. Hier stiegen Heißluftballons auf, es gab Konzerte und ein Feuerwerk. Die Menge soll so begeistert gewesen sein, dass sie das Marsfeld stürmte.
Eine Woche später meldeten sich die ersten Kritiker: Solche Feste seien einer Revolution nicht würdig, sagte der Schriftsteller Marie-Joseph Chénier. Er hoffe, dass am 22. September, dem 1. Vendémiaire, also dem Neujahrstag des Revolutionskalenders, ein Nationalfest mit größerer Würde stattfinden werde. Dabei erinnerte er an das antike Griechenland, das „Geburtsland von Kunst und Freiheit“.
Zwei Monate später, am 1. Vendémiaire, wurde die Idee realisiert. Sie ist das, was mittlerweile von einigen Olympiahistorikern als „Republikanische Olympiade“ bezeichnet wird, die ein Vorläufer der Olympischen Spiele der Neuzeit sei. Diesem Fest, das doch würdiger als die ausgeuferten Volksfeste im Juli und August sein sollte, attestiert Hugh Farey jedoch, dass es nicht den gleichen Enthusiasmus ausgelöst hat wie die Spiele im Sommer. Erfolglos war es aber auch nicht, es kam zu zwei Wiederholungen, 1797 und 1798. Auch andere Sportfeste, die nicht am feierlichen 1. Vendémiaire ausgetragen wurden, waren populär. Es gab sie noch bis 1801.
Sprünge aus dem Heißluftballon
„Der sportliche Inhalt war anspruchsvoller als alles bis dahin Gesehene“, kommentiert Farey. Es gab erstmals Wagenrennen, und auch ein besonderes Ringen wurde 1797 veranstaltet: Acht Männer auf jeder Seite, die acht Sieger traten danach gegeneinander an, dann die vier Sieger, dann die übriggebliebenen zwei. Letztlich siegte Charles-Pierre Oriot, ein 33-jähriger Metzger aus Paris, der den 34-jährigen Hutmacher Digot bezwingen konnte.
Im Jahr 1800 fiel der Laufwettbewerb aus, die bei den Zuschauern populärste Sportart. „Die Menge stand auf der Laufbahn“, nannte die englische Whitehall Evening Post damals den Grund. Statt fand derweil ein Zielschießen auf Lebensmittel. Für Begeisterung sorgten auch Heißluftballone, die etwa 1.000 Meter hoch stiegen und von denen Menschen mit einem Fallschirm absprangen. All das waren recht neue Spektakel: Die erste Ballonfahrt der Gebrüder Montgolfier hatte es 1783 gegeben, den ersten Fallschirmsprung aus einem Ballonkorb wagte André-Jacques Garner 1797, und seine Ehefrau Jeanne-Geneviève Labrosse war 1799 die erste Fallschirmspringerin der Welt.
Im Jahr 1801 wurde das letzte Nationalfest in Paris ausgetragen – wieder mit einer sportlichen Innovation: Klettern an glitschigen Stangen. Danach war zunächst Schluss mit diesen revolutionären Festen. Aber das Ende dieses demokratischen Sports, bei dem ein Metzger das Ringen, ein Unteroffizier das Laufen und ein Exsoldat das Reiten gewinnen konnten, war das noch nicht. Dass es im Gefolge der Französischen Revolution oft zu Festen kam, bei denen sportliche Wettkämpfe eine bedeutende Rolle spielten, und dass dort oft Männer und Frauen aus allen Schichten teilnahmen, ist bekannt. Aber dafür, dass diese Feste geradewegs zu den Olympischen Spielen der Neuzeit führten, gibt es keinen seriösen Beleg. Im Gegenteil: Sie waren sozial völlig anders ausgerichtet. Als die Olympischen Spiele 1896 in Athen erstmals ausgetragen wurden, durften keine Frauen teilnehmen, kaum Arbeiter, und das Reiten beispielsweise war nur Offizieren gestattet – bis 1952.
Bei diesen großen Festen auf dem Pariser Marsfeld – wie auch bei ähnlichen Veranstaltungen vor allem in England und Amerika – begründete sich der moderne Sport, der sich von mittelalterlichen Turnieren nicht zuletzt durch den Einsatz des metrischen Systems und durch Zeitmessungen unterscheidet. Von Nationalfesten im Jahr 1798 und 1800 hat der Astronom Alexis Bouvard die jeweiligen Leistungen berechnet und sie somit vergleichbar gemacht – ein Wesensmerkmal modernen Sports. Die Laufstrecke 1798 betrug 251,5 Meter; der Finalsieger Michel Villemereux, ein Unteroffizier, schaffte sie in 32,7 Sekunden; es entspräche einer 400-Meter-Zeit von 52,0 Sekunden. Ganz neu waren Messungen nicht: Im englischen Pferdesport wurden bereits 1721 mit Hilfe von Stoppuhren Rennzeiten in Sekunden gemessen. Schon ab 1757 wurden in England Zeiten von Läufern und von Pferden auf eine halbe Sekunde genau gestoppt. Sogar die legendäre Marke, eine Meile unter vier Minuten zu laufen – sporthistorisch offiziell erstmals 1954 vom Engländer Roger Bannister geschafft –, soll nicht ganz sicheren Berichten zufolge 1770 von einem James Parrot und 1796 von einem Läufer namens Weller, jeweils in London, erreicht worden sein.
Selbstverständlichkeit Frauensport
Der – nebenbei gesagt: mehr als umstrittene – Sporthistoriker Henning Eichberg vermutete in einem Aufsatz aus dem Jahr 1974, dass es bei diesen vorbürgerlichen Rennen „mehr um den Reiz von Wettkampfsituationen und -sensationen ging als um absolute Rekorde“. Er fügte hinzu: „Soziale Exklusivität bei diesem Verhalten gab es nicht: Grafen rannten ebenso um Geldpreise wie Brauerweiber, jedoch nicht im gemeinsamen Wettkampf.“ Eichberg, der auch als Ideologe der neuen Rechten in Erscheinung trat, erkennt in dem Umstand, dass viele Menschen aus allen Schichten antraten, keine demokratische Errungenschaft, sondern wertet dies als „Skurrilität und zum Teil Absurdität“, die sich so zeigte: „Greise, Krüppel, Splitternackte, Kleinkinder und besonders Korpulente, Frauen, darunter auch Schwangere.“ Sogar Frauensport galt ihm als Skurrilität.
Tatsächlich war im frühen Sport, der sich vor allem im England, Frankreich und dem republikanischen Amerika des 18. und frühen 19. Jahrhundert formierte, eine hohe Partizipation und Diversität zu beobachten, die mit dem elitären und exklusiven Gentlemensport der Olympischen Spiele der Neuzeit nichts zu tun hatte. Diese bemerkenswerte demokratische Qualität rührt von den bürgerlichen Revolutionen in diesen Ländern her, der englischen von 1640 bis 1648, der Amerikanischen mit der Unabhängigkeitserklärung 1776 und der Französischen Revolution 1789. Das Recht auf Teilhabe wurde dort jeweils erstritten – und dann fröhlich ausgelebt.
Aus dem öffentlichen Gedächtnis ist das allerdings weitgehend verschwunden: Als Sport gilt mittlerweile vor allem das, was von den Fachverbänden oder dem Internationalen Olympische Komitee (IOC) geregelt wird. Dazu passt die Behauptung von einer „Republikanischen Olympiade“ im September 1796; das sei der Beginn einer Entwicklung, die geradewegs zu den 1896er-Spielen von Athen geführt habe, heißt es, und das Buch, das als Hauptquelle für diese These dient, „Les Enfants d’Olympie. 1796–1896“ von Alain Arvin-Bérod (1996), ist passenderweise mit einem Vorwort des damaligen IOC-Präsidenten Juan Antonio Samaranch erschienen.
Was von den IOC-nahen Geschichtsschreibern vorschnell behauptet wird, hat sich Historiker Farey genauer angeschaut. Alle Vorschläge, die Spiele, die mal „Sansculottides“, mal „Franciades“ und sehr selten nur „Olympiades“ genannt wurden, mit olympischen Symbolen aufzuladen, seien früh gescheitert, schreibt er, „offiziell waren die Olympiaden, um das Mindeste zu sagen, gestorben, bevor sie geboren wurden“. Neben antiken griechischen Einflüssen bedienten sich die französischen Revolutionäre auch bei Symbolen wie den ägyptischen Pyramiden, chinesischen Tempeln oder christlichen Engeln. Hugh Farey schreibt: „Die antiken Olympischen Spiele hatten den Revolutionsfesten nichts zu bieten.“
Das hindert aber manche Historiker nicht, das Erbe der revolutionären Anfänge des Sports für die Zwecke der olympischen Bewegung zu okkupieren. Und auf diese Weise, ganz nebenbei, das demokratische Potenzial des frühen Sports vergessen zu machen.
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