Geschichte der jüdischen Familie Scholem: Die Brüder Scholem
Ein Buch zeigt die Familiengeschichte der Scholems als Sozialgeschichte des Judentums im 20. Jahrhundert. Am berühmtesten war Gershom.
Nach ihm ist in Berlin weder ein Platz noch eine Straße benannt – anders bei seinem lebenslangen Freund Walter Benjamin, der 1940 auf der Flucht vor den Nazis durch Freitod gestorben ist. Dabei war und ist Gershom Scholem der berühmteste Erforscher der jüdischen Mystik; geboren wurde er 1897 in Berlin, um Jahrzehnte später, 1982, in Jerusalem zu sterben.
Dieser Sohn einer bürgerlichen deutsch-jüdischen Familie hatte, was minder bekannt ist, noch drei Brüder: Erich, Reinhold und Werner. Der ihm an Nähe und Gegensatz nächste Bruder, Werner, wurde 1895 geboren und 1940 als Kommunist im KZ Buchenwald ermordet, während es den beiden älteren Brüdern, dem 1891 geborenen Reinhold sowie dem 1893 geborenen Erich gerade noch gelang, nach Australien zu fliehen.
Die Geschichte der Scholems ist indes weit mehr als eine – wenn auch dramatische – Familiengeschichte, vielmehr ist sie nicht mehr und nicht weniger denn eine Sozialgeschichte des deutschen Judentums in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Tatsächlich beginnt diese Geschichte aber bereits im 19. Jahrhundert, als im Zeitalter der Französischen Revolution und der preußischen Reformen der Staat Preußen im Jahre 1812 ein „Emanzipationsedikt“ erließ, wonach Juden (das heißt: jüdische Männer) gleichberechtigte Staatsbürger waren – wenngleich ihnen bis 1919 jede Beamtenlaufbahn, erst in Preußen, dann im Deutschen Reich verwehrt blieb.
Der Urvater der Scholems jedenfalls, Marcus Scholem, zog 1812 aus Glogau nach Berlin – sein Sohn Siegfried gründete eine Druckerei, die später von Reinhold und Erich Scholem, den Urenkeln von Marcus, geleitet wurde.
Säkularität und Tradition
Die Geschichte der vier Brüder Scholem erweist sich als eine präzise Sozial- und Mentalitätsgeschichte des säkularen deutschen Judentums, eines Judentums, das zwar noch an dem einen oder anderen religiösen Ritus festhielt, aber ansonsten danach strebte, gleichberechtigtes Mitglied der deutschen Gesellschaft zu sein.
Indes: da das Judentum immer eine Religion des Lernens und der Bildung war, den deutschen Juden zudem jene Beamtenlaufbahn versperrt war, zeichnete sich in Deutschland – nicht so in Polen und Russland – schnell eine Konzentration auf akademische, aber freie sowie gehobene kaufmännische Berufe ab.
Im Jahr 1933 zählte das Judentum in Deutschland etwa eine halbe Million Menschen. In den Jahren des Ersten Weltkriegs hatten etwa einhunderttausend jüdische Männer im Heer des Kaiserreiches gedient, so auch Erich und Reinhold Scholem, während die beiden jüngeren Brüder zwar gemustert, aber aus verschiedenen – meist gesundheitlichen – Gründen denn doch nicht eingezogen wurden.
Liberalismus und Jugendbewegung
Alle überlebten den Krieg, sodass die beiden älteren Brüder, Reinhold und Erich, in der Weimarer Republik die Druckerei übernahmen und politisch dem nationalen – so Reinhold – beziehungsweise dem freisinnigen Liberalismus – so Erich – anhingen, während sich die beiden jüngeren, Werner und Gerhard, der Jugendbewegung, dem Studium und der Politik zuwandten.
Und zwar in durchaus moderner, aber weltanschaulich entgegengesetzter Richtung: Während Werner jedweden jüdischen Partikularismus strikt ablehnte und sich dem Sozialismus und Kommunismus zuwandte, vertiefte sich Gerhard, der sich bald darauf Gershom nennen sollte, in die jüdische Tradition und Geschichte sowie in die hebräische Sprache und fasste den Beschluss, sobald wie möglich ins damalige Palästina auszuwandern.
Gerhard – Gershom – Scholem war also Zionist, allerdings: anders als die politischen Zionisten in der Tradition Theodor Herzls war Gershom Anarchist und trat bis an sein Lebensende für einen Ausgleich mit den Arabern Palästinas ein.
Seit 1915 mit Walter Benjamin befreundet, 1917 der elterlichen Wohnung verwiesen, lernte er in einer Pension in Berlin ostjüdische Intellektuelle wie den späteren Literaturnobelpreisträger Agnon kennen – eine Zeit, in der sich sein Entschluss zu emigrieren festigte. Gershom vollzog diesen Schritt im September 1923 und heiratete noch im Dezember des Jahres seine erste Frau, Escha.
Suche nach einem Ausgleich mit den Arabern
Von alldem handeln seine 1977 auf Deutsch publizierten Jugenderinnerungen „Von Berlin nach Jerusalem“. Der Suche nach einem Ausgleich mit den Arabern Palästinas blieb er ein Leben lang treu: noch im Juni 1967, nach dem Sechstagekrieg, sagte er in einer Rede in Zürich:
„Das jüdische Volk weiß aus seiner langen Geschichte, was es heißt, zu den Besiegten zu gehören. Seit zwanzig Jahren hat es in drei Kriegen, die es nicht gesucht hat, zum ersten Mal erfahren, was es bedeutet, Sieger zu sein. Die lange und die kurze historische Erfahrung, das Gedächtnis aus dem Stand der Besiegten und das lebendige menschliche Gefühl des Siegens müssen in unserer Erfahrung einen Ausgleich finden. Friede für Israel ist zugleich auch Friede mit den Arabern.“
Werner hingegen, er war zwei Jahre älter als Gerhard, stand wie seine älteren Brüder seit 1914 im Kriegsdienst, wurde wegen Majestätsbeleidigung eingesperrt, um nach dem Krieg – nachdem er eine junge, nicht jüdische Proletarierin, Emmy Wiechelt, geheiratet hatte – zunächst Mitglied der USPD und dann der KPD zu werden, aus der er 1926 wegen „Linksabweichung“ ausgeschlossen wurde. 1933 verhaftet und mit Prozessen überzogen, wurde er schließlich im KZ Buchenwald inhaftiert, wo er im Juli 1940 „auf der Flucht“ von zwei Lagerschergen erschossen wurde.
Jay Geller dokumentiert ausführlich die Diskussionen über die bis heute nicht geklärte Frage, ob der Urheber seines Todes die SS war oder ob es nicht doch Mitglieder einer stalinistischen Häftlingsorganisation waren, die diesen Mord veranlasst hatten. „Es bleibt“, so Geller 2018, „bis auf den heutigen Tag unklar, warum Werner Scholem im Juli 1940 umgebracht wurde.“
Jay H. Geller: „Die Scholems. Geschichte einer deutsch-jüdischen Familie“. Aus d. Englischen von Ruth Keen und Erhard Stölting. Suhrkamp 2020, 463 S., 25 Euro
Die Schreckensnachricht ereilte die Mutter der vier Brüder sowie Erich und Reinhold in Australien, wohin zu fliehen ihnen Anfang 1939 – nach den Novemberpogromen – über Großbritannien und Kanada endlich gelang.
Ihr Leben verlief, hier blieben sie sich treu, in bürgerlichen Bahnen: So übernahm Reinhold, der älteste der Brüder in Sydney, einen Betrieb für Kunststoffverarbeitung, kam damit zu einigem Wohlstand und unterstützte die Mitte-rechts stehende Liberal Party, während der etwas jüngere Erich geschäftlich erfolglos blieb und 1965 plötzlich verstarb. Sein letzter Wille bestimmte zum Erstaunen aller seiner Verwandten und Hinterbliebenen, dass er nach orthodoxem Ritus bestattet werden sollte.
Späte Hinwendung zur Orthodoxie
Doch war Erich nicht der einzige der Familie, der sich endlich der Orthodoxie zuwandte. Werners Frau, Emmy Wiechelt, die mithilfe eines ihr befreundeten SA-Mannes 1934 über die Tschechoslowakei nach Großbritannien floh, kehrte 1949 in die Bundesrepublik zurück, engagierte sich in der Jüdischen Gemeinde Hannover und konvertierte auf ihre alten Tage zum Judentum.
Geller schildert auch die Nachkriegsgeschichte der Familie, ihre Urlaube in der Schweiz, ihre Tagungsreisen und Korrespondenzen, kommt aber, auf das deutsche Judentum im Ganzen bezogen, zu einem elegischen Schluss:
„Die Geschichte der Familie Scholem in den 1930er-Jahren ist wie die der meisten deutschen Juden eine Geschichte der Vertreibung und Vernichtung. […] Für […] die meisten Juden, die 1933 in Deutschland lebten, führte die Flucht weltweit in Länder, die ihnen unwillig Schutz boten. Manche warteten auf die Niederlage des Dritten Reichs und hofften auf Heimkehr, aber die meisten bauten sich im Exil […] eine neue Existenz auf. So war es denn in New York, Los Angeles, Tel Aviv, Jerusalem und London und Sydney, wo Reste des historischen deutschen Judentums weiterlebten, während das jüdische Leben in Deutschland und das lange deutsch-jüdische Jahrhundert ihr Ende fanden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül