Geschichte der BRD: Ein intellektuelles Panorama
Axel Schildt rekonstruiert die Geburt der bundesrepublikanischen Medienintellektuellen aus den Trümmern des „Dritten Reiches“.
„Gott allein weiß, wer das lesen soll“, schrieb der Kritiker der Kulturindustrie Theodor W. Adorno mit einer kräftigen Dosis Selbstironie im November 1963 an seinen alten Freund Siegfried Kracauer in New York. „Prismen“, Adornos erstes Buch in Massenauflage, sollte auch Kracauer auf Veröffentlichungschancen in Deutschland aufmerksam machen. Die gerade begonnene „edition suhrkamp“ markierte einen grundlegenden Wandel im deutschen Buchmarkt.
Texte, die früher einem kleinen elitären Kreis vorbehalten waren, fanden ein breites Publikum. Die Leserschaft hatte sich verjüngt, neue und damit auch ältere exilierte Autoren bekamen eine Chance, die westdeutsche Provinz öffnete sich. Suhrkamp schickte gleich die Zeitschrift Kursbuch mit, um in der neuen Weltoffenheit Orientierung zu liefern.
Der kürzlich viel zu früh verstorbene Zeitgeschichtler Axel Schildt hat die fundamentale Veränderung der Bundesrepublik als Geschichte der Medien-Intellektuellen erzählt. Schildt, so hat man das Gefühl, hat wirklich alles von Beginn in den späten vierziger Jahren bis in die Gegenwart gelesen, was geschrieben und gesendet wurde.
Axel Schildt: „Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik“. Wallstein Verlag, Göttingen 2020, 896 Seiten, 46 Euro
Aber noch besser: Schildt kann den Strom der intellektuellen Debatten wiedergeben, ohne sich in Paraphrasen zu verzetteln. In seiner Darstellung entsteht ein Panorama von den konservativ dominierten fünfziger Jahren bis zum Ende der „langen“ sechziger Jahre, in denen das Land in West wie Ost modernisiert wurde.
Arena öffentlicher Meinung
Schildt rekonstruiert die Geburt des neuen Medienintellektuellen aus den Trümmern des „Dritten Reiches“. Unter der Besatzungsherrschaft entstanden neue intellektuelle Produktionszentren. Die dominante Stellung Berlins verlor sich mit der deutschen Teilung. Hamburg, Frankfurt und München wurden Anziehungspunkte mit Verlagen, Zeitungen und Radioprogrammen. Die öffentlich-rechtlichen Sender ermöglichten, unabhängig vom Marktgeschehen, eine in der westlichen Welt einzigartige Arena öffentlicher Meinung.
Pluralität war nicht gegeben, sie musste hart erkämpft werden. Verleger, Intendanten, Redakteure kamen nicht aus dem Nichts, sondern in ihrer überwältigenden Mehrheit aus dem „Dritten Reich“. Ihre Lebensgeschichten lesen sich unterschiedlich; Edelfedern, die sich durchgemogelt hatten, tauchen ebenso auf wie die Opfer von Schreibverboten, alte SS-Männer fehlen ebenso wenig wie engagierte Demokraten.
Viele, meist beschwiegene Verwandlungen lassen sich beobachten. Aus alten Nazis werden oft autoritäre Demokraten; aus militanten Antifaschisten erbitterte Antikommunisten. Man kann dieses Buch als Lexikon benutzen; im Personenregister nachschlagen und die Geschichte der Medienintellektuellen finden, über die man mehr wissen möchte. Aber Schildt liefert nicht nur eine Unzahl von individuellen Details, sondern er macht die informellen Beziehungen und Strukturen sichtbar. Die Leser werden überrascht von einer Vielzahl von Fronten- und Positionswechseln.
Kaum Luft zum Atmen
Die vierziger Jahre stehen noch ganz im Banne der deutschen Teilung. Die Sowjetische Besatzungsmacht bot geistigen Produzenten Publikationsmöglichkeiten, die mit dem beginnenden Kalten Krieg liquidiert wurden. Für Intellektuelle blieb im Osten kaum noch Luft zum atmen; der permanente Exodus der DDR-Intellektuellen veränderte auch die westdeutsche Landschaft.
Der Kalte Krieg beförderte den Durchbruch der Moderne im provinziellen Westdeutschland. Die Konservativen bewahrten ihr intellektuelles Potenzial im Hintergrund: Martin Heidegger, Carl Schmitt und Ernst Jünger standen jungen Leuten, die nach rechts Ausschau hielten, immer zu Diensten. Redakteure, Professoren und Autoren pilgerten zu ihnen und sicherten ihren Einfluss in Redaktionen und Lektoraten.
Spannend ist der Kampf zwischen Merkur und Monat um die Meinungsführerschaft im Zeitschriftenmarkt nachzulesen. Der Monat, gestützt mit US-amerikanischem Geld, setzte auf die Konfrontation eines modernen Westens gegen die regressive Abschottung des antikosmopolitischen Ostens. Der Merkur versuchte antitotalitär Schritt zu halten, bediente sich aber auch gern im Fundus deutsch-elitärer Geistestradition.
Die südwestdeutsche Industrie bot dem Projekt finanziellen Rückhalt. Soziologen wie Arnold Gehlen und Helmut Schelsky standen bereit, einen autoritären Konservativismus zu propagieren. Der junge Jürgen Habermas aber spürte deren Antiintellektualismus und lehnte es ab, als modernisierendes Feigenblatt zu dienen.
Neue Bildungswut
Die meisten autoritären Konservativen wollten nicht in einer antimodernen Nische verharren. Mit „rowohlts deutscher enzyklopädie“ erreichten sie einen expandierenden Buchmarkt. Das wissenschaftliche Taschenbuch war geboren, das die Bildungswut der „skeptischen Generation“ (Schelsky) abdecken sollte.
Bildung schien Ablass auf den nationalsozialistischen Sündenfall Deutschlands zu gewähren. Das Generationenmodell kontrastierte eine unschuldige Jugend im Gegensatz zu den Untaten der Väter. „Gebildete“ oder „Geistige“ nannten sich Intellektuelle schon zu Zeiten der Weimarer Republik, um sich von den subalternen Massen abzugrenzen. Der Blick von oben ermöglichte ohne große Umstände Distanz zur Pöbelherrschaft der Nazis und sollte nach dem Nationalsozialismus die Bildung neuer Eliten begründen. Die verschlungenen Pfade der Exkulpation lassen sich bei Schildt genau verfolgen.
Eine besondere Rolle spielten in den Medien bis Ende der fünfziger Jahre ehemalige Nationalrevolutionäre aus dem Geist der konservativen Revolution wie Ernst Niekisch, Hans Zehrer, Karl Korn, Friedrich Sieburg und Paul Sethe. Wer hätte gedacht, dass ein Mitbegründer der FAZ mit dem einstigen Nationalbolschewisten einen freundschaftlichen Gedankenaustausch pflegte?
Hans Zehrer, einst führender Kopf im weimarfeindlichen Tatkreis, war zum Ideengeber des jungen Axel Springer geworden, der in den frühen fünfziger Jahren seinen Platz zwischen ultrakonservativer Zeit und nationalneutralistischem Spiegel suchte.
Ressentiments ermöglichten Erfolg
Ressentiments gegen die Besatzungsmächte ermöglichten große Bucherfolge wie den „Fragebogen“ des aristokratischen Anti-Rathenau-Verschwörers Ernst von Salomon, den ein nach allen Seiten offener Ernst Rowohlt verlegte, der doch gerade mit seinen billigen Rotationsromanen Hemingway und andere amerikanische Schriftsteller populär gemacht hatte.
Die Intellektuellen mussten ihren Platz in der nachnationalsozialistischen Gesellschaft finden, die Schelsky schon 1953 als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ charakterisiert hatte – ein publizistischer „Plausibilitätserfolg“, wie Schildt zu Recht kritisiert. Böse Zungen haben Schelskys Vorstellung auch als Fortleben der Volksgemeinschaftsideologie mit anderen sprachlichen Mitteln bezeichnet. Der verachtungsvolle Blick auf die Massen musste sich nicht ändern. Mit Kulturpessimismus ließ sich die Notwendigkeit funktioneller Eliten begründen.
Das christliche Abendland hatte inzwischen als Legitimationsreservoir ausgedient, die Bundesrepublik rechtfertigte sich in den sechziger Jahren durch ökonomischen Erfolg. Die anwachsende Gesellschaftskritik entstand aus den Widersprüchen der Kulturkritik. Das Bildungsbürgertum hatte sich lange gegen die angebliche Amerikanisierung der westdeutschen Gesellschaft gewehrt; aber gerade die Medien mussten die Modernisierungsbedürfnisse der Gesellschaft aufgreifen.
Die gar nicht homogene „Gruppe 47“ öffnete die Medien für neue Horizonte und Autoren aus ihrer Mitte fermentierten als Lektoren und Redakteure die öffentlichen Diskussionen. Namen wie Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger und Martin Walser müssen hier genannt werden. Gesellschaftskritische Schriftsteller und Publizisten dienten als Feindbild des Establishments. Der Wirtschaftswunderkanzler Ludwig Erhard (CDU) nannte sie verbittert „Pinscher“.
Der eloquent-kämpferische Adorno
Rundfunkdebatten erwiesen sich jenseits von elitären Konferenzen lange vor den televisionären Talkshows als neue geistige Arenen. Adorno zum Beispiel schreckte keineswegs vor Diskussionen mit konservativen Matadoren zurück, selbst wenn er wie bei Gehlen ziemlich genau über deren nationalsozialistische Vergangenheit bescheid wusste. Der Lyriker Gottfried Benn entzog sich mit leicht antisemitischem Schaudern einer Funkdebatte mit dem eloquenten Adorno, der wiederum von dessen antiintellektuellen Schandtaten aus dem Jahre 1933 wusste.
Schildt gelingt es, die großen Linien einer inzwischen fragmentierten Öffentlichkeit zu zeigen. Leider verläuft sich sein Text, der vorzüglich von Detlef Siegfried und Gabriele Kandzora ediert worden ist, Ende der sechziger Jahre. Frauen kommen, nicht Schuld des Autors, relativ wenig vor.
Gerade sie werfen ein Licht auf das ganze Spektrum: die erzkonservative Margret Boveri, die vertriebene, erst spät liberal gewordene Gräfin Dönhoff, die in allen Medien besonders gefragte Hannah Arendt, deren Lektor beim Piper Verlag ein ehemaliger Obersturmbannführer im Reichssicherheitshauptamt war. Sie wusste davon nichts.
Leser dieses 900 Seiten Monumentalwerkes können das alles erfahren: Intellectual History als Zeitgeschichte von einem Zeitzeugen ohne polemische Verzerrung geschrieben. Ein Panorama der alten Bundesrepublik, die aus dem Blick schwindet.
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