Gesamtwerk von Ton Steine Scherben: Kleines Universum der Anarchie
Zehn Jahre lang haben sich die Erben Rio Reisers um die Rechte an dessen Songs gestritten – nun ist das Gesamtwerk neu erschienen.
Persönliche Erinnerung Nummer eins: Der 1. Mai 1975 war ein sonniger Frühlingstag in Westberlin. In Moabit hatte sich die radikale Linke versammelt, um den „Kampftag der Arbeiterklasse“ zu feiern. Über zehntausend Menschen waren gekommen, vor allem junge. Als Proletarier verkleidete Kommunisten sangen die „Internationale“.
Wir – Spontis und Anarchisten – liefen hinter einem Lautsprecherwagen her, aus dem ein Song von „Ton Steine Scherben“ hämmerte. „Reißen wir die Mauern ein, die uns trennen. Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen. Du bist nicht besser als der neben dir. Keiner hat das Recht, Menschen zu regier’n.“
Der Refrain: „In jeder Stadt und in jedem Land, heißt die Parole von unserem Kampf, heißt die Parole von unserem Kampf, Keine Macht, für niemand!“ Es war die Hymne der Anarchisten und Spontis.
Fast zehn Jahre haben sich die Erben des Sängers Rio Reiser und die Musiker der Band um die Rechte an den Songs der Scherben gestritten. Vergangenes Jahr haben sie sich endlich geeinigt, und seit ein paar Wochen ist das „Gesamtwerk“ der Scherben wieder erhältlich: eine Box mit fünf Studioalben und drei Livealben. Dazu Singles, Demotapes, Outtakes, andere Raritäten und ausführliche Erläuterungen zu den Umständen der Aufnahmen. Wahlweise auf CD oder Vinyl. Mit dem Gesamtwerk lässt sich die Frage untersuchen: Woraus bezogen und beziehen die Scherben ihre Signifikanz?
Ton Steine Scherben: Das Gesamtwerk. CD-Box 95,99 Euro. Als Vinyl-LP-Sammlung 197,95 Euro (David Volksmund/Indigo)
„Am Anfang war das Wort“, Johannes 1. In der populären Musik gab es schon immer Sänger und Bands, bei denen die Worte schwerer wiegen als die Töne, Bob Dylan ist eines der bekanntesten Beispiele für diesen Primat des Textes.
Soundtrack zur Revolte
Den Scherben brachten ihre Texte das Etikett „Politrock“ ein. „Macht kaputt, was euch kaputtmacht“ hieß ein programmatisches Lied auf ihrer ersten Platte, die 1970 erschienen war. „Allein machen sie dich ein“ eine andere Nummer
Die Scherben sangen auf Deutsch; und ihr Sänger Rio Reiser, mit bürgerlichem Namen Ralph Möbius, schaffte etwas, was bis dahin unmöglich schien. Er sang zu angloamerikanischer Rockmusik deutsche Texte, und es klang nicht peinlich.
Es klang so natürlich und authentisch, wie gute Rockmusik klingen muss. Ein leichter Berliner Akzent half, und die Texte waren in der Sprache gehalten, die junge Arbeiter verstanden und selbst sprachen: „Nee, ich will nicht werden, was mein Alter ist.“ Die Scherben-Songs waren der Soundtrack zur Revolte der frühen 1970er Jahre, der Soundtrack zu Klassenkampf, langen Haaren, Drogen, Hausbesetzungen, Demos – Dingen und Ereignissen, die bereits Objekte der Historisierung sind.
Am Haus Tempelhofer Ufer Nr. 32, in Berlin-Kreuzberg am Ufer des Landwehrkanals, hängt heute eine Gedenktafel: „Hier lebte und arbeitete von 1971 bis 1975 der Sänger, Textdichter und Komponist Rio Reiser, 9. 1. 1950 bis 20. 8. 1996, mit der Band Ton Steine Scherben.“ Als die Scherben in dem Gründerzeithaus lebten, gaben sich Freunde und Genossen, Trebegänger, Fans aus Westdeutschland und bewaffnete Bullen-Kommandos die Klinke in die Hand – bis die Band nach vier Jahren nach Fresenhagen in Nordfriesland flüchtete, um dort in Ruhe zu leben und zu arbeiten.
Die Scherben transponierten die Sponti-Parole „Das Persönliche ist politisch“ in die Sphäre der Musik. Die Lieder waren politisch, aber gingen vom Individuum aus, von subjektiven Erfahrungen der Unterdrückung und Frustration, aber auch vom Wunsch nach Gemeinschaft und Freiheit. Gleichzeitig hatten sie ein existenzialistisches Moment, oder wie Rio Reiser es einmal beschrieb: „Unser Prinzip: Erst einmal ins Dunkel und die tiefsten Tiefen, dann hinauf ans Licht.“
Zehntausend Hausbesetzer
Persönliche Erinnerung Nummer zwei: Im Januar 1981 zogen mehr als zehntausend Hausbesetzer und ihre Unterstützer durch die Straßen Westberlins. Aus den Lautsprecherwagen krachten Punknummern wie „Keine Atempause“ von Fehlfarben oder „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ von Slime. Aber auch Scherben-Songs, besonders der „Rauch-Haus-Song“: „Der Mariannenplatz war blau, so viele Bullen waren da, und Mensch Meier musste heulen, das war wohl das Tränengas ...“
Im Dezember 1971 hatten die Scherben im Auditorium Maximum der Westberliner Technischen Universität gespielt, nach einem Teach-in zu den Vorfällen rund um die Erschießung Georg von Rauchs durch einen Polizeibeamten in Berlin-Schöneberg. Rauch hatte zu den „Haschrebellen“ gehört, dem „Blues“, dann war er in den Untergrund gegangen, mit Genossen wie Bommi Baumann, die kurz darauf die „Bewegung 2. Juni“ gründeten.
Von der Technischen Universität marschierten mehr als fünfhundert junge Leute zum leerstehenden Bethanien-Krankenhaus in Kreuzberg, besetzten dort das ehemalige Schwesternheim und nannten es Rauch-Haus. Über die Türe malten sie den Spruch von Georg Büchner: „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ Und nach zähem Kampf zwangen sie den Senat dazu, ihnen das Gebäude zu überlassen.
Der Rauch-Haus-Song ist zur Hymne von Kreuzberg geworden. Und er ist paradigmatisch dafür, warum Songs der Scherben auch im 21. Jahrhundert Anziehungskraft auf junge Menschen haben. Sie erzählen eine Geschichte und haben etwas, was den allermeisten Popsongs fehlt: eine Botschaft.
Die chronische Finanzmisere der Band konnte auch Claudia Roth, die spätere Grünen-Vorsitzende, als Managerin der Band nicht beheben. Ton Steine Scherben lösten sich 1985 auf, Rio nahm in der Folge Soloplatten auf. Mit „König von Deutschland“ landete er sogar einen echten Hit. Er schrieb und spielte weiterhin schöne Songs ein, aber die Intensität der besten Scherben-Nummern hatten sie nicht mehr. Aufgerieben von Geldsorgen, Drogen und langen Jahren als charismatischer Frontmann auf der Bühne, starb Rio 1996, im Alter von 46 Jahren.
Ein Song wie ein Universum
Die Erben von Rio Reiser und die einstigen Mitglieder der Band, die als „Scherben-Family“ und nun auch als Ton Steine Scherben wieder live auftreten, haben sich die vergangenen zehn Jahre um Rechte und respektive Tantiemen gestritten. Die Scherben-Tonträger waren derweil schon zu teuren Raritäten geworden.
Die Musik der Scherben war konventionell, der Songstruktur verhaftet. Strophe, Refrain, Strophe, Refrain, Bridge, Strophe und so weiter. Von elektrischen Gitarren dominierte Rockmusik, die in ihren Höhepunkten an Velvet Underground erinnert, aber nichts Elektronisches, Experimentelles, wie es zur gleichen Zeit die Krautrock-Gruppen entwickelten, Tangerine Dream, Amon Düül II, Can oder Kraftwerk.
Persönliche Erinnerung Nummer drei: Im Februar 1984 in Fresenhagen, in dem reetgedeckten Bauernhof der Scherben in Nordfriesland, spricht Rio Reiser nach dem Frühstück am frühen Nachmittag bei einer Weißwein-Schorle über Songs. „Ein guter Song“, sagt er, „ist wie ein kleines Universum.“
Manche der Scherben-Songtexte sind zeitlos und universell. „Meine Name ist Mensch“, zum Beispiel, von der ersten LP: „Ich habe viele Väter. Ich habe viele Mütter, und ich habe viele Schwestern und ich habe viele Brüder. Meine Väter sind schwarz, meine Mütter sind gelb und meine Brüder sind rot und meine Schwestern sind hell ... Ich bin über zehntausend Jahre alt und mein Name ist Mensch.“ Unter Kolleginnen und Kollegen genoss und genießt Rio Reiser als Songwriter – meist unterstützte ihn dabei der Gitarrist Lanrue – einen legendären Ruf; sein Einfluss erinnert an den Bob Dylans in der angloamerikanischen Popmusik. Zu den deutschen Musikern, die Scherben-Covers aufgenommen haben, zählen unter anderen: Marianne Rosenberg, Die Ärzte, Beatsteaks, Clueso, Jan Delay, Fettes Brot, Rocko Schamoni, Slime, die Toten Hosen, Wir sind Helden.
Die Scherben stechen in Deutschland aus der Geschichte der Rockmusik hervor, ähnlich wie es Jimi Hendrix, die Beatles oder Bob Dylan in der globalen Musikgeschichte tun. Das klingt übertrieben. Ist es aber nur ein wenig.
Der Autor war taz-Mitgründer, von 1992 bis 1994 taz-Chefredakteur. Er schreibt seit 1995 für den „Spiegel“.
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