Gerettetes Baby in Griechenland: Außenposten mit Vorbildfunktion
Der Fall eines geretteten Flüchtlingsbabys auf der Insel Tilos bewegt Griechenland. Bürgermeisterin Maria Kamma würde gerne mehr tun.
Jonah war am vorigen Wochenende mit seinen aus Afghanistan geflüchteten Eltern und anderen Familienangehörigen in einem Boot an einem felsigen Küstenabschnitt von Tilos, einer nordwestlich von Rhodos gelegenen kleinen Insel, gestrandet. Mitflüchtende, die an einer anderen Stelle auf Tilos an Land ankamen, meldeten die Familie als vermisst. Drei Tage verstrichen, bis sie von den Behörden gerettet werden konnte.
Dem Baby, das erst am 25. Juni auf der Flucht auf die Welt gekommen war, gaben die Eltern notgedrungen mit Meerwasser vermischtes Milchpulver, als ihr Trinkwasser ausging. So überlebte es. Die griechische Küstenwache brachte die Familie mit einem kleinen Schlauchboot in Sicherheit.
Inzwischen sei Jonah mit seiner Familie in das Aufnahmelager für Flüchtlinge auf der Insel Leros gebracht worden, so Bürgermeisterin Kamma zur taz. „So sollte eine menschliche Gesellschaft sein. Das Selbstverständliche ist heute selten“, fügt Kamma hinzu. Sie versicherte, Tilos werde allen Flüchtlingen und Migranten weiter „so gut wie möglich helfen“. Jonah gehe es gut. Über Facebook wünschte ihm Kamma noch alles Gute: „Viel Glück, unser kleiner Junge! Möge das Leben von nun an nicht mehr so grausam und ungerecht zu dir sein!“
Gerne würde Kamma Flüchtlingsfamilien auf Tilos behalten, ihnen eine Zukunft bieten. Das sieht ein einstimmiger Beschluss des Stadtrats von Tilos aus dem Jahr 2014 vor. Doch die Regierung in Athen unter dem konservativen Premier Kyriakos Mitsotakis verfolgt einen restriktiven Flüchtlingskurs: Wer es nach Tilos schafft, wird zeitnah in die Aufnahmelager der Nachbarinseln Leros und Kos gebracht, wie Jonah und Familie. In der taz lässt Kamma ihrem Frust darüber freien Lauf. „Wir haben tausende Touristen auf der Insel, im Sommer finden hier viele öffentliche Feiern statt. Wir suchen händeringend Arbeitskräfte.“
Arbeitskräfte gebraucht
Der rigide Athener Flüchtlingskurs sei oft kontraproduktiv. Ein Beispiel: eine Ziegenfarm, auf Tilos gegründet als Sozialgenossenschaftliches Unternehmen (Koinsep). Es stellte Käse her. Das ist vorbei. Denn Flüchtlinge, die zuvor zu den Koinsep-Genossen zählten und auf der Farm tätig waren, verloren gemäß eines Gesetzes der Regierung Mitsotakis das Recht auf eine Steuernummer und ihre Wohnung. Sie verließen Tilos. Ersatz ist nicht zu finden. Tilos hat zu wenig Einwohner.
Derweil kommen wieder mehr Schutzsuchende nach Griechenland. Offiziellen Angaben zufolge sind im ersten Halbjahr dieses Jahres 18.508 Neuankömmlinge registriert worden – ein Anstieg um 122 Prozent im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum. Ist Hellas der Außenposten an Europas Flüchtlingsfront, dann ist Tilos ob seiner Lage nahe der türkischen Küste der Außenposten Griechenlands. „Tag für Tag kommen Dutzende neue Geflüchtete auf die Insel“, berichtet Kamma.
Unter der Ägide von Maria Kamma, die BWL studiert hat und seit 2012 als Bürgermeisterin von Tilos fungiert, ist die 900-Einwohner-Insel in vielen Belangen ein Vorreiter. Beispiel Energieversorgung: Die 62-Quadratkilometer-Insel versorgt sich völlig selbständig mit Wind- und Solarenergie, Tilos ist die erste energieautarke Insel im ganzen Mittelmeer. Ferner wird der gesamte Müll recycelt. Vielleicht wird ja auch Tilos’ Willkommenskultur ein Vorbild für den Rest des Landes.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen