Gerangel ums G8: Der gymnasiale Stellvertreterkrieg
Eltern protestieren, Politiker schwanken, Betroffene fühlen sich wie Versuchstiere. In drei Bundesländern ist G8 Wahlkampfthema.
Ein typisches G8 also. G wie Gymnasium, 8 wie acht Jahre bis zum Abitur. Vor über zehn Jahren hatte Nordrhein-Westfalen, so wie die meisten westdeutschen Bundesländer, die Gymnasialzeit verkürzt und die Reifeprüfung um ein Jahr auf Klasse 12 vorgezogen. Die Folge des „Turbo-Abis“: Teenager mit Burn-out-Syndrom, erboste Eltern, die zu Nachhilfelehrern und Straßenkämpfern mutierten und fürsorgliche Oppositionspolitiker, die eine sofortige Rückkehr zum G9 fordern.
„Ach wo“, sagt Schulleiter Doepner. „G8 ist kein Thema bei uns an der Schule. Die Schüler sind nachmittags hier, weil es einfach Spaß macht.“ Das Gymnasium bietet am Nachmittag zusätzliche Kurse und Arbeitsgemeinschaften an: Die Schüler können im Chor singen, besuchen Forscherkurse oder bilingualen Unterricht.
Doepner und die 760 Schüler, 60 Lehrer und 20 weiteren Mitarbeiter des Theodor-Heuss-Gymnasiums scheinen in einem völlig anderen Nordrhein-Westfalen zu leben als Marcus Hohenstein. Der Sprecher der Elterninitiative „G9 jetzt“ spricht von den „katastrophalen“ Folgen des G8. „Kinder müssen bis vier Uhr unterrichtet werden, was dazu führt, dass Freizeitaktivitäten kaum noch ausgeübt werden können.“ Für ihn ist erwiesen: Mit G8 sinkt die Bildungsqualität.
Je nach Region sind Verteidiger und Gegner vertauscht
Vor drei Jahren hatten Hohenstein und seine Elterninitiative 100.000 Unterschriften für eine Volksinitiative zusammengetragen. Seit Januar sammeln sie nun für ein Volksbegehren.
Unter dem Druck protestierender Eltern ist das achtjährige Gymnasium jetzt auch wieder auf der Agenda der Parteien im Wahlkampf gelandet. Und zwar nicht nur in Nordrhein-Westfalen, wo im Mai gewählt wird, sondern auch im Saarland und in Schleswig-Holstein, wo die Bürger in diesem Frühjahr ebenfalls über neue Länderparlamente abstimmen. Auch in Schleswig-Holstein sammelt die Elterninitiative „G9 jetzt!“ Unterschriften, um das Rad zurückzudrehen.
Und da Schulpolitik nun einmal Ländersache ist, lässt sich darüber gerade in Wahlkampfzeiten trefflich streiten. Paradoxerweise verlaufen die Auseinandersetzungen zum G8 nicht farblich sortiert entlang von Parteilinien. Je nach Region sind die Rollen von Verteidigern und Gegnern des G8 vertauscht.
Während im Saarland die christdemokratische Regierungschefin Annegret Kramp-Karrenbauer am G8 festhalten will und ihre Herausforderin, die SPD-Spitzenkandidatin Anke Rehlinger, zum langsameren G9 zurückkehren möchte, ist es in Schleswig-Holstein genau umgekehrt: Dort will die CDU im Falle eines Wahlsiegs das Abitur nach neun Jahren wieder verbindlich an Gymnasien einführen, während die SPD keine Veränderungen will.
Die Politiker gingen vor wie Möbelträger
Der stellvertretende Landeschef der schleswig-holsteinischen CDU, Tobias Loose, der die Junge Union hinter sich weiß, greift in seiner Argumentation wiederum ähnliche Gründe auf wie die Linken-Spitzenkandidatin in Nordrhein-Westfalen, Özlem Demirel. Demirel meint: „Lernen braucht Zeit“, Loose sagt: „Uns geht es um Entschleunigung.“
Und Grüne und SPD in NRW wollen, dass die Schulen beide Varianten gleichzeitig anbieten – das G8 und das G9.
Saarland: Wahl am 26. März Regierung: CDU/SPD Die Gymnasien bieten das G8 an. Die CDU will daran festhalten, die SPD will zum G9 zurück.
Schleswig-Holstein: Wahl am 7. Mai Regierung: SPD/Grüne/SSW84 von 99 Gymnasien bieten G8 an. Die Koalition will das beibehalten, die CDU fordert eine flächendeckende Rückkehr zu G9.
Nordrhein-Westfalen: Wahl am 14. Mai Regierung: SPD/GrüneIn der Regel G8, 11 von 614 Gymnasien bieten auch G9 an. Die SPD will an allen Gymnasien beides ermöglichen, die CDU ist gegen die „Wünsch-dir-was-Schule“. (ale)
Konfusion komplett also. So unübersichtlich wie die Einführung der Schulzeitverkürzung verlief, droht nun der Ausstieg zu werden.
In Schleswig-Holstein, ähnlich wie in Nordrhein-Westfalen, kappten die Politiker an den Gymnasien ein Schuljahr, indem sie den Stoff in der Mittelstufe komprimierten und die dreijährige Oberstufe nicht antasteten. Die Bildungspolitiker gingen im Grunde vor wie Möbelträger, die bei einer Klaviertastatur eine Oktave absägen, damit das Klavier durch die Tür passt.
Kein einziger pädagogischer Grund für G8
Die Folge: Die Gymnasien sind nicht mehr kompatibel zum Rest der Schullandschaft, in NRW endet die Mittelstufe an den Gymnasien nach der neunten Klasse, an den anderen Schulen nach Klasse zehn.
Während die Linke Demirel in NRW zumindest behaupten kann, ihre Partei sei schon immer gegen das G8 gewesen, vollführen Looses CDUler in Schleswig-Holstein gerade eine 180-Grad-Wende. 2008 hatten sie das G8 zusammen mit der SPD eingeführt. „Die Rahmenbedingungen haben sich massiv geändert“, sagt Loose heute.
Damals war man der Meinung, deutsche Absolventen kämen zu spät auf den Arbeitsmarkt – die Abschaffung der Wehrpflicht und die gestraffte Studienstruktur hätten allerdings schon dafür gesorgt, dass die Berufsanfänger von heute deutlich jünger sind. Und mal ehrlich, meint Loose, ein 21-jähriger Hochschulabsolvent habe keine besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt als ein 23-jähriger. Im Gegenteil.
Was Loose damit auch ausspricht und was im Grunde genommen immer Konsens unter Fachleuten war: Für die Einführung des G8 gab es keinen einzigen pädagogischen Grund. Es ging allein um wirtschaftliche Gründe.
„Die Akzeptanz des G8 ist total im Keller“
Umgekehrt gilt dasselbe: Die Befürworter des G9 argumentieren allenfalls aus freizeitpädagogischer Sicht. „Die Schüler haben wieder mehr Freizeit und die Chance, das Wissen im Langzeitgedächtnis zu speichern“, beantwortet Elternaktivist Hohenstein die Frage nach dem pädagogischen Mehrwert des G9.
Oder sie schieben das Missfallen der Eltern vor. „Die Akzeptanz des G8 ist total im Keller“, zitiert der parlamentarische Geschäftsführer der NRW-SPD, Marc Herter, Umfragen. Und er betont: „Es ist unverantwortlich den jüngeren Schülern so viel Stress zuzumuten.“
Maja Emanuel, 17 Jahre
Tatsächlich fällt das G8 bei Eltern mehrheitlich durch. Allerdings: „Dieser Unmut lässt sich nicht dingfest machen“, sagt der Bielefelder Schulforscher Klaus-Jürgen Tillmann, der die alle drei Jahre erscheinenden Jako-O-Schulstudien betreut.
Bei der diesjährigen, noch unveröffentlichten, Befragung setze sich der Trend der vergangenen Jahre fort: Eltern lehnen das G8 zu 80 Prozent ab, geben aber gleichzeitig an, dass ihr Kind gern zur Schule gehe und mit den Anforderungen gut zurechtkomme. „Hier hat sich eine Sichtweise verfestigt, für die es keine Indikatoren gibt“, meint Tillmann. Leistungsvergleiche bestätigten, dass G8-Schüler genauso kompetent seien wie die G9-Jahrgänge früherer Zeiten.
Man hat sich arrangiert
„Die Schüler sind nicht schwächer, sie sind nur jünger“, berichtet auch Schulleiter Doepner von den Erfahrungen an seinem Essener Gymnasiums mit G8.
Während die Debatte auf der politischen Ebene emotional geführt wird, reagieren Lehrerverbände denn auch zurückhaltend. Tenor: Bitte verschont uns mit neuen Strukturdebatten!
Man habe das G8 zwar immer kritisiert, inzwischen aber habe man sich arrangiert, erzählt der Geschäftsführer der schleswig-holsteinischen GEW, Bernd Schauer. „Die Schulen kommen damit ganz gut klar.“
„Aus den Schulen wird uns kein Handlungsbedarf gemeldet“, berichtet auch der Vorsitzende des nordrhein-westfälischen Philologenverbands, Peter Silbernagel.
„Debatte um G8 is ein Stellvertreterkrieg“
Und im Saarland verfolgt der Philologenverband die politische Debatte eher alarmiert: Man wolle kein jahrelanges Gezerre um neue Schulstrukturen: „Von einer Politik des Ausprobierens haben die Lehrer die Schnauze voll“, sagt der Vorsitzende des Philologenverbands, Markus Hahn. „Das können Sie genau so zitieren.“
Philologenverband und GEW stehen traditionell auf verschiedenen Seiten der Schulfront: als Gymnasiallobbyisten sind die einen, als Einheitsschulfans sind die anderen verschrien. Tatsächlich sind die Gräben in vielen Bundesländern inzwischen zugeschüttet. Denn neben den Gymnasien haben sich fast überall Schulformen etabliert, die alle Abschlüsse einschließlich des Abiturs anbieten. Die Schüler haben dort in der Regel ein Jahr länger Zeit. G9 gibt es also längst wieder – wenn auch nicht an Gymnasien.
Den mühsam errungenen Schulfrieden sieht Schauer von der GEW gefährdet: „Wenn flächendeckend G9 wieder eingeführt wird, könnte der Zulauf an den Gemeinschaftsschulen leiden.“
„Die Debatte ums G8 ist im Grunde ein Stellvertreterkrieg“, meint Gymnasialvertreter Silbernagel aus NRW. Stattdessen solle man lieber über Inklusion und Integration sowie über die Versorgung mit Lehrern reden. Da gebe es tatsächlich Rede- und Handlungsbedarf.
Die Schülervertretung will G8 behalten
Darin sind sich die Lehrer- mit den Schülervertretern einig. „Es muss viel mehr geschehen, als einfach nur das System wieder in lockerere Bahnen zu lenken“, sagt Luca Samlidis von der Landesschülervertretung NRW, die eine flexiblere Oberstufe befürwortet, „allerdings nicht zurück zum alten G9 will“.
Noch deutlicher positionieren sich die saarländischen SchülervertreterInnen: „Wir wollen das G8 beibehalten“, sagt die Vorsitzende der Landesschülervertretung Maja Emanuel. Die 17-Jährige besucht selbst einen G9-Jahrgang auf einem Oberstufengymnasium. Als sie eingeschult wurde, gab es das G8 im Saarland schon ein paar Jahre.
„Manche Eltern haben wohl noch nicht verstanden, dass wir nicht mehr im 20. Jahrhundert Schule machen“, meint sie und fügt hinzu: „Ein gutes G8 bringt Schule weiter als die Rolle rückwärts.“
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