Gendermedizin: Frauen sind anders, auch für Ärzte

Vera Regitz-Zagrosek leitet am Berliner Uniklinikum Charité Deutschlands einziges Institut für Geschlechterforschung in der Medizin. Spezialisiert hat sich das Institut auf Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Bei Herzinfarkt ist Eile geboten - bei Frauen die Todesursache Nr. 1. Bild: dpa

"Das Herz einer Frau ist so unergründlich wie die Tiefen des Ozeans", sagt Kate Winslet im Film "Titanic" - nicht zuletzt eine konventionelle Anspielung auf die berühmte weibliche Intuition. Diese war im Spiel, als Vera Regitz-Zagrosek (55) auf die Idee kam, das Frauenherz zum Gegenstand eingehender medizinischer Forschungen zu machen. Insgesamt acht Jahre lang arbeitete sie als Oberärztin am Deutschen Herzzentrum Berlin, zuletzt in leitender Funktion.

"Eher unterbewusst fiel mir dort auf, dass wir die behandelten Frauen fast immer verloren haben, sie kamen kaum zu Nachuntersuchungen", erzählt sie. "Ohnehin bildeten Frauen nur 20 Prozent von den etwa 3.000 Erkrankten, die ich dort jährlich zu sehen bekam. In den 90er-Jahren gab es keine einzige Universitätskardiologin in Deutschland. Im erweiterten Vorstand der deutschen Gesellschaft für Herz-Kreislauf-Forschung mit über 50 Leuten saß nur eine Frau. Da überlegte ich: na, vielleicht gibts ja einen Zusammenhang zwischen der rein männlichen Besetzung der leitenden Positionen und der Tatsache, dass offensichtlich Frauen weniger behandelt werden?"

Seit 2002 ist die Kardiologin Professorin an der Charité-Universitätsmedizin, seit 2007 leitet sie dort Deutschlands bisher einziges und erstes Institut für Geschlechterforschung in der Medizin. Kurz darauf wurde sie Gründungspräsidentin der Internationalen Gesellschaft für Gendermedizin, 2006 organisierte sie den ersten Weltkongress für Geschlechterforschung in Berlin. Im kommenden November wird in Berlin schon der vierte stattfinden.

Herzinfarkt gilt immer noch eher als eine Männerkrankheit, dabei ist er heute auch bei Frauen die Todesursache Nr. 1, und sie erleiden ihn in immer jüngerem Alter. Die Wissenschaft erklärt dies damit, dass sie zunehmend unter beruflichem und privatem Stress gleichzeitig leiden. Besonders negativ wirkt es sich aus, wenn Frauen die Pille nehmen und dazu noch rauchen: "Möglicherweise ist Stickstoffmonoxyd einer der endogenen Faktoren, der Frauen sonst vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen bewahrte", berichtet Regitz-Zagrosek: "Es entsteht in den Gefäßen selbst, schützt diese und wird durch Rauchen zerstört."

Ein Infarkt wird bei Frauen im Durchschnitt verzögert diagnostiziert und häufig falsch behandelt. Die gängigen Herz-Kreislauf-Medikamente schlagen bei ihnen nicht so gut an. Ein Beispiel: das Gefäß, dessen Verschluss einen Herzinfarkt ausgelöst hat, versucht man heute mit einem Ballonkatheder oder mit einem Medikament möglichst schnell wieder zu öffnen. Eines dieser stark wirkenden Medikamente ist ein sogenannter GPIIb/IIIa-Antagonist. Er blockiert einen Oberflächenreflektor auf Blutplättchen, die dann nicht mehr so leicht miteinander verkleben und ein Blutgerinnsel bilden können.

"Mehrere Studien, zuletzt eine in den USA mit über 40.000 Patienten und Patientinnen, haben bewiesen, dass Frauen bei dieser Behandlung wesentlich häufiger Blutungskomplikationen haben, darunter auch tödliche, als Männer", erklärt die Professorin: "Das ist zum Teil auf eine relative Überdosierung zurückzuführen. Nicht nur sind Frauen im Durchschnitt kleiner und leichter, sie haben auch eine relativ schlechte Nierenfunktion und bauen das Medikament langsamer ab." Das Gleiche gilt auch für das traditionell verwendete Digitalis.

Acetylsalicylsäure (ASS) ist bei beiden Geschlechtern seit Jahrzehnten das Mittel der Wahl zur Primärprophylaxe von Herzinfarkten und Schlaganfällen. Gegen Letztere erzielt man damit gleich gute Erfolge bei Männern wie Frauen. Herzinfarkte dagegen verhindert ASS, neuesten Forschungen zufolge, bei Frauen kaum.

"Das klingt paradox und niemand hat es bisher verstanden", schmunzelt die Wissenschaftlerin. "Vielleicht hat es mit dem Gerinnungssystem zu tun. Wir wissen heute, dass Blutplättchen Östrogenrezeptoren haben und somit auf weibliche Hormone ansprechen. Frauen haben ja auch öfter Thrombosen als Männer, und das hängt ebenfalls mit hohen Östrogenspiegeln zusammen. Es gibt auch eine Reihe genetischer Varianten, die Thrombosen begünstigen. Bevor sie mit eine Hormontherapie beginnt, sollte eine Frau also gut abchecken, ob sie nicht ein entsprechendes Risiko geerbt hat."

Tests werden heute noch vorwiegend mit jungen, männlichen Probanden und Laborstudien an männlichen Mäusen durchgeführt. Auf die Frage, ob sie denn eine Frauenquote für Labormäuse fordere, lacht die Wissenschaftlerin: "Für die Kardiologie mindestens 50 Prozent." Bei den Herz-Kreislauf-Krankheiten ist die Benachteiligung der Frauen besonders eklatant. Doch künftig sollen Männer von der Tätigkeit des Instituts für Geschlechterforschung in der Medizin genauso profitieren.

Gebiete, auf denen Männer von der Medizin stiefmütterlich behandelt werden, sind zum Beispiel Erkrankungen an Osteoporose und Depressionen. Nicht aufgearbeitet ist Vera Regitz-Zagrosek zufolge die Prophylaxe von Prostatakrebs: "Es sind sich noch nicht alle darüber einig, was man so tun müsste als Vorsorgeprogramm, wie man das schonend für die Patienten durchführt und ihnen gut vermittelt."

In Zukunft, dessen ist sich die Professorin sicher, wird es auf fast allen Beipackzetteln für Medikamente getrennte Rubriken für Männer und Frauen geben. Ihr neuester Erfolg: "Im Sommer 2009 bewilligte die EU ein Projekt für uns zusammen mit sechs anderen europäischen Universitäten: Stockholm, Nijmegen, Maastricht, Innsbruck, der Semmelweis-Universität in Budapest und Sassari (Sardinien). Wir werden Gender-Medizin nach den neuesten europäischen Studienrichtlinien als gesamteuropäisches Fach etablieren. Es soll nur an drei der sieben Universitäten unterrichtet werden, aber mit Lehrern von allen sieben und für Studenten aus allen europäischen Ländern. In ganz Europa wird man die Ausbildungszertifikate anerkennen."

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