Geheimdienst sucht V-Leute: Das nette Pärchen von nebenan
Verfassungs- und Staatsschutz versuchen momentan, verstärkt Szene-Aktivisten als V-Leute anzuwerben. Im Visier: Bauwagenplatz Zomia und die Rote Flora.
Hamburgs Sicherheitsorgane befinden sich zurzeit offensichtlich, was die Befindlichkeiten der linken und autonomen Szene betrifft, in Unwissenheit und Nervosität.
Mindestens drei Anwerbungsversuche hat es nach Kenntnis der taz hamburg in den vergangenen Wochen durch den Verfassung- und Staatsschutz gegeben, um vermeintliche Aktivisten als V-Männer zu Spitzeltätigkeiten zu animieren und einzukaufen. Der Verfassungsschutz bestreitet die Aktivitäten nicht. "Wir sind ein Geheimdienst. Und das Geheimnis ist, dass wir zu Geheimnissen nichts sagen", sagt ein Sprecher.
Es war das nette Pärchen von nebenan, das den 20-jährigen Christian Lochte* im Hinterhof eines Gebäudekomplexes in Niendorf ansprach - die Frau in Jeans und Jacke, die Haare zum langem Pferdeschwanz gebunden, ihr Begleiter ebenfalls bürgerlich im Polo-Hemd und Jeans. "Ich bin gerade von der Arbeit gekommen und dachte, das sind neue Nachbarn, die sich vorstellen wollen", sagt Lochte der taz hamburg. Doch dann sei es schnell zur Sache gegangen.
Der Mann habe sich als Angestellter des Verfassungsschutzes zu erkennen gegeben und eine Visitenkarte übergeben. "Wie ich zur Gewalt stehe, wurde ich gefragt", sagt Lochte. "Und wie das Umfeld der Roten Flora zur Gewalt steht?"
Seine Daten hätten die Mitarbeiter des Inlandsgeheimdienst offenbar von der Polizei gehabt, sagt Lochte, da er 2010 bei einer Demonstration gegen einen Neonazisaufmarsch in Neumünster kontrolliert worden sei. Und auch, dass er ein Praktikum beim links-alternativen Lokalsender "Freies Sender Kombinat" gemacht hatte und dass er dort mehrere Sendungen gestaltete, sei den Agenten bekannt gewesen.
"Es wäre doch besser, wenn ich über Leute rede, als wenn andere über mich redeten, ist mir vorgehalten worden", sagt Lochte. Man hätte ihn ja auch ihm Betrieb oder bei seiner Pfadfindergruppe aufsuchen können, drohten sie.
Lochte gibt aber nicht klein bei und zeigt dem Geheimdienstpärchen die Rote Karte. Er lehnt jede Zusammenarbeit ab. Spurlos ist der Vorfall jedoch nicht an Lochte vorbeigegangen: "Es war schon eine Bedrohung, die Arbeit und das Umfeld zu erwähnen. Ich war schon anfangs verunsichert", sagt er.
Bei Ernst Uhrlau* war das Gespräch kürzer, als ihn ein adrett gekleideter Verfassungsschutz-Mitarbeiter in Wilhelmsburg zu rekrutieren versuchte. "Was sich denn im Wohnprojekt Fährstraße regen würde im Falle einer Räumung des Bauwagenplatzes Zomia", fragte der Geheimdienstler. "Ich sagte ihm gleich, dass ich kein Interesse habe", sagt Uhrlau. Dann habe er ihn auch schnell in Ruhe gelassen.
Etwas mehr Mühe gaben sich offenbar zwei Mitarbeiter des Staatsschutzes der Polizei bei ihrem Anwerbeversuch von Heino Vahldieck* in Wilhelmsburg. In Szene-Outfit gekleidet sprachen sie Vahldieck an, was denn im Falle einer Räumung des Bauwagenplatzes Zomia zu erwarten sei.
Der Chef des Bezirksamtes Mitte, Markus Schreiber (SPD), hat gerade am Dienstag dem Bauwagenplatz eine Räumungsverfügung zugestellt: Die 15 köpfige Gruppe nebst ihren zehn Wohnwagen habe bis zum 3. November das Areal zu verlassen.
Zomia-Anwalt Martin Klingner wird gegen die Räumungsverfügung vor dem Verwaltungsgericht Widerspruch einlegen, sodass eine Räumung vor Mitte November rechtlich gar nicht möglich wäre - wenn sie nicht ohnehin vom SPD-Senat auf der politischen Ebene gekippt wird.
Denn Bürgermeister Olaf Scholz lehnt eine Räumung bislang ab und die Stadtentwicklungsbehörde bemüht sich zurzeit, eine Alternativ-Lösung auszuloten. Dennoch bestreitet die Polizei ihre Spitzel-Anwerbeaktivitäten nicht. Polizeisprecher Andreas Schöpflin: "Zu derartigen Vorgängen geben wir grundsätzlich keine Auskünfte."
*Namen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich