Gefühle im Shitstorm: Die anderen sind schlimmer

Menschen, die einen Shitstorm von außen miterleben, entwickeln ambivalente Gefühle und unterschätzen die Beteiligten. Das zeigt ein Experiment.

Ein Mann mit Labtop steht vor einer Projektion mit binären Zahlen

Shitstorms wecken oft widersprüchliche Gefühle Foto: Kacper Pempel/reuters

Denken Sie an den letzten Shitstorm, den Sie online beobachtet haben. Sie lasen Dutzende, vielleicht sogar Tausende negative Kommentare, in denen über eine Person und deren moralisch fragwürdige Handlung geurteilt wurde. Erinnern Sie sich noch, wie Sie sich fühlten? Es ärgerte Sie vielleicht, was die Person getan hatte. Gleichzeitig verspürten Sie möglicherweise ein wenig Mitleid. Schienen die Reaktionen nicht etwas übertrieben?

Mit einer solchen Ambivalenz sind Sie nicht allein. Takuya Sawaoka und Benoît Monin von der Universität Stanford sind in ihrer Forschung kürzlich der Frage nachgegangen, ob virale Empörung dazu taugt, Beobachterinnen und Beobachter davon zu überzeugen, dass der „Täter“ oder die „Täterin“ tadelnswert ist. Ihre Studie, die aus sieben unterschiedlichen Experimenten besteht und im Fachjournal Social Psychological and Personality Science veröffentlicht wurde, zeigt, dass ein Shitstorm widersprüchliche Gefühle weckt.

Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurden veränderte Social-Media-Posts vorgelegt; etwa ein „Selfie“ in Auschwitz oder ein Politiker, der sich abschätzig über den „Women’s March“ äußerte („hoffentlich sind die Frauen rechtzeitig zurück, um das Abendessen zu ­kochen“). Die Teilnehmenden bekamen entweder zwei oder zehn negative Reaktionen zu den Posts zu lesen. Zehn Reaktionen galten in dem Experiment als virale Empörung. Das sind zwar wenig Kommentare im Vergleich zu den meisten Shitstorms; für die Messung war es aber treffsicherer. Anschließend beantworteten sie eine Reihe von Fragen.

Gegensätzliche Gefühle

Wer zehn negative Postings liest, also quasi einen Shitstorm beobachtet, verurteilt die Person, der dieser galt, eher. Der wichtigste Faktor dabei war, ob man glaubte, dass „andere Leute“ die Person stark verurteilten. Gleichzeitig schwächte ein weiterer Faktor die Auswirkung der Posts auf die Verurteilung ab: Hatte man das Gefühl, dass die Bestrafung zu hoch ausfiel, die Person im Auge des Shitstorms also zu viel abbekam, milderte das die persönliche Verurteilung.

Ein Shitstorm weckt also gegensätzliche Gefühle. Das Mitgefühl erhielten prominente „Opfer“ übrigens ebenso wie unbekannte. Ebenfalls keinen Unterschied machte es, wie „schlimm“ die Tat eingeschätzt wurde.

Wir sind also eher bereit, Menschen zu verurteilen, wenn wir glauben, dass die Mehrheit derselben Meinung ist. So weit nichts Neues. In einem der Experimente fragten die Forscher allerdings ab, wie man die eigene Empörung im Vergleich zu der der anderen einschätzte. Das Ergebnis ist beeindruckend: Sie hielten die anderen für deutlich aufgeregter. Gleichzeitig unterschätzten sie das Mitgefühl der anderen, dachten also, mit dem Gefühl, der Shitstorm wäre unverhältnismäßig, stünden sie allein da.

„Virale Empörung demokratisiert den moralischen Fortschritt“, schreiben die Forscher in der Einleitung. Einerseits. Andererseits sind diese Mechanismen ziemlich alt und bekannt.

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Journalistin und Autorin in Wien. Schreibt über Wissenschaft für den "Falter", kommentiert Politik für die "Presse". War zuvor Redakteurin bei "The Forward" in New York. "Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete" über ihre Familiengeschichte erschien 2018 im Paul Zsolnay Verlag, 2020 in englischer Übersetzung ("I belong to Vienna") bei New Vessel Press (New York). Von 2019 bis 2020 schrieb sie die Kolumne "Die Internetexplorerin" für die taz.

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