Geflüchtete streiten für Bleiberecht: Geblieben um zu kämpfen
Seit zehn Jahren streitet die Gruppe "Lampedusa in Hamburg" für ein Bleiberecht. Der Kampf ist gescheitert, sagt Jeano Elong.
„Ich werde nicht zum ‚10 Jahre Lampedusa -Festival‘ gehen“, sagt Jeano Elong. „Wer dort hingeht, obwohl wir nichts gewonnen haben, ist ein Idiot.“ Elong ist Mitglied der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ und einer der wenigen, die überhaupt noch Interviews zum Thema geben. Viele andere sind frustriert und wütend, Elong ist es auch.
Das „Zehn Jahre Lampedusa“-Festival an diesem Wochenende wird von der St.-Pauli-Kirche ausgerichtet. Heute vor zehn Jahren, am 2. Juni 2013, erlangte die Kirche bundesweite Bekanntheit, weil sie 81 Personen der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ aufnahm. 350 Afrikaner*innen waren vor den Nato-Bomben aus Libyen geflohen und über die Insel Lampedusa nach Europa gekommen.
Die italienische Regierung hatte ihnen entgegen der Dublin-Verordnung ein Visum für den Schengenraum und jeweils 500 Euro in die Hand gedrückt, damit sie das Land verließen. In Hamburg schlossen sie sich zusammen, um gemeinsam für ihre Zukunft zu kämpfen. Sie forderten ein Bleiberecht nach Paragraf 23 – eine Gruppenlösung, bei der die oberste Landesbehörde einer Gruppe Schutzsuchender den Aufenthalt aus humanitären Gründen gewähren kann.
Olaf Scholz wollte keine Sonderregelung
Doch der von Olaf Scholz geführte SPD-Senat ließ sich nicht darauf ein, obwohl der Druck aus der Zivilgesellschaft groß war. Die Gruppe hatte eine beispiellose Welle der Solidarität losgetreten. Jeden Mittwoch demonstrierten die Geflüchteten und ihre Unterstützer*innen für das Bleiberecht.
Ein Zelt im Bahnhofsviertel wurde zur Dauerkundgebung und zum Treffpunkt. An einem Freitagabend nach einem St.-Pauli-Spiel gingen mehr als 10.000 Menschen auf die Straße. Musiker*innen brachten einen Solisampler heraus, Schauspieler*innen, Sänger*innen und Filmemacher*innen zeigten ihr Gesicht in einer Plakatkampagne, darunter Prominente wie Deichkind, Jan Delay, Bela B. und Fatih Akin. Das Kampnagel-Theater richtete eine Konferenz aus und installierte ein Kunstprojekt mit Schlafplätzen für Geflüchtete. Anwohner*innen besuchten die St.-Pauli-Kirche und überschütteten sie mit Sachspenden oder boten ihre Unterstützung beim Deutschunterricht und bei Behördengängen an.
Doch wenn es eins gab, was die Geflüchteten nicht wollten, waren es Behördengänge. Denn das hätte bedeutet: Personalien werden überprüft – oh, ein Dublin-Fall! Und sobald das Schengen-Visum abgelaufen wäre: Abschiebung nach Italien. Doch da waren die Zustände in den Lagern unmenschlich. Aber Olaf Scholz stellte klar, dass man die Geflüchteten in Deutschland ebenfalls nicht haben wolle. „Es wird keine Sonderregelung geben“, wiederholte er mantraartig. Die Polizei versuchte derweil mittels Racial Profiling, die Personalien der Geflüchteten zu erfassen.
Als der Senat verkündete, er werde eine kirchliche Obhut nur unter der Bedingung dulden, dass sich die Geflüchteten erkennungsdienstlich behandeln ließen, räumten die St.-Pauli-Kirche und einige andere Gemeinden ihre Bänke zur Seite. „Die Kirche und die Diakonie beteiligen sich nicht an einem Abschiebelager“, erklärten Bischöfin Kirsten Fehrs und Landespastorin Annegrethe Stoltenberg. Die Schutzsuchenden in den Gemeinden blieben anonym.
Im Oktober 2013 machte der Senat der Gruppe ein Angebot: Wer sich registrieren ließe, würde eine Duldung und eine Einzelfallprüfung bekommen – was aufgrund der Dublin-Regelung eigentlich ausgeschlossen ist, wenn jemand in Italien oder einem anderen EU-Staat bereits registriert ist. Solange ein Verfahren laufe, werde man die Person nicht abschieben, versicherte der Senat. Doch die Geflüchteten vertrauten Scholz nicht. „Unseren von Italien anerkannten Flüchtlingsstatus gegen eine Duldung einzutauschen, ist keine konstruktive Lösung, sondern ein Spiel auf Zeit, um uns später einzeln abzufertigen“, schrieben sie in einem offenen Brief.
„Man wollte uns spalten“, davon ist Jeano Elong überzeugt. Bei so vielen Menschen aus so unterschiedlichen Ländern sei klar gewesen: Einige haben bessere Chancen als andere. Manche konnten Englisch, andere weder lesen noch schreiben, manche hatten Berufsausbildungen und Abschlüsse, andere schwere Traumata. „Aber was sollte aus denen werden, die es nicht schaffen?“, fragt Elong. „Wir wollten eine Lösung für alle.“
Doch mit der Zeit trat ein, was Elong und andere befürchtet hatten. Der politische Druck auf die Kirche stieg, und damit auch der Druck auf die Geflüchteten. Die Pastoren rieten den Schutzsuchenden, das Angebot des Senats anzunehmen. Die Mitglieder der Gruppe „Lampedusa in Hamburg“ fühlten sich im Stich gelassen. Im Frühjahr 2014 mussten sie die Kirche verlassen. „Ich hätte mir gewünscht, dass die Kirche neutral bleibt und sich nicht dem Druck des Senats fügt“, sagt Elong. Doch auch viele seiner Mitstreiter*innen fügten sich dem Druck und ließen sich registrieren. Die Gruppe ist seitdem gespalten.
„Jede Gruppe kann sich integrieren“
Insa Graefe hat viele Jahre mit denen zusammengearbeitet, die sich entschieden haben, die Duldung anzunehmen. „Fast alle, die diesen Weg gewählt haben, waren erfolgreich“, sagt Graefe. Sie ist Anwältin der kirchlichen Asylrechtsberatung Fluchtpunkt und hat mit ihren Kolleg*innen über hundert Mitglieder der Lampedusa-Gruppe vertreten. „Am Anfang wusste niemand, ob das klappt“, sagt Graefe, „auch wir nicht.“ Doch die Zusage der Behörden, niemanden abzuschieben, solange die Einzelfallprüfung laufe, habe den Geflüchteten Zeit verschafft, sich zu integrieren.
Während die Jurist*innen bis ins kleinste Detail darlegten, warum die Geflüchteten weder in Italien noch in ihren Herkunftsländern leben konnten, lernten die Betroffenen Deutsch, fanden Arbeit, gründeten Familien. „Das war sehr harte Arbeit. Je nach Voraussetzungen war es für einige härter als für andere“, sagt Graefe. Aber die große Unterstützung aus der Zivilgesellschaft und die enorme Motivation der Geflüchteten habe es möglich gemacht.
Am Ende trugen die Anwält*innen die Integrationsleistungen der Härtefallkommission vor. Die Kommission habe in allen Fällen positiv entschieden, sagt Graefe. Für diejenigen, denen es etwa aufgrund schwerer Traumata zu schlecht ging, um die hohen Anforderungen zu erfüllen, habe Fluchtpunkt Abschiebeverbote erwirkt. Nur fünf Personen haben es laut Graefe nicht geschafft, weil sie gestorben sind oder das Verfahren abgebrochen haben.
Für Fluchtpunkt ist das Jubiläum also durchaus ein Grund zum Feiern. Und obwohl die Umstände der Lampedusa-Gruppe so einzigartig waren, lässt sich etwas daraus für die Zukunft ableiten, meint Graefe: „Jede Gruppe kann sich integrieren, wenn sie genug Zeit und Unterstützung bekommt. Leider bekommen viele diese Chance nicht, weil gesagt wird: ‚Die schaffen das ohnehin nicht‘. Das ist aber Quatsch.“ Und noch etwas könne man aus dem Prozess der Gruppe lernen: „Politische Kämpfe haben manchmal mehr Erfolg, als man vorher glaubt.“
Hunderte Male auf Demos gesprochen – und wofür?
Jeano Elong würde das auch gern glauben. „Ich habe immer Hoffnung, ich bin Afrikaner“, sagt er. „Wir geben die Hoffnung niemals auf.“ Aber erfolgreich ist an dem politischen Kampf der Lampedusa-Gruppe für ihn wenig. „Was haben wir denn erreicht?“, fragt er. Auf Hunderten Kundgebungen haben er und andere gesprochen, unendliche viele Interviews gegeben, sich zigmal mit Politiker*innen, Reporter*innen und Aktivist*innen getroffen, alles immer und immer wieder erzählt, gefordert, appelliert.
Doch alles, was sie erreicht hätten, seien individuelle Lösungen, sagt Elong. Er selbst ist mit einer Deutschen verheiratet und hat deshalb den Aufenthaltstitel. Er arbeitet, lebt seit Jahren in der gleichen WG und macht professionell Musik. So wie er haben es nur eine Handvoll anderer geschafft – über Heirat oder Kinder, anders geht es nicht, solange die Politik sich nicht ändert. Andere Gruppenmitglieder, die damals die Duldung nicht nahmen, leben heute auf der Straße oder in Obdachlosenunterkünften, manche sind sucht- oder psychisch krank, andere nach Italien oder anderswo hingegangen.
Ist Elong glücklich mit seinem Leben hier? „Ich bin glücklich, egal wo ich bin. Ich lebe“, sagt er. Was ihn unglücklich mache, sei, wenn er seine Mitstreiter*innen sehe, die nicht die Chance haben, ein sicheres Leben zu führen wie er.
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