Geflüchtete im „Neuenfelder Fährdeich“: Leben im Nirgendwo
In der Unterkunft „Neuenfelder Fährdeich“ leben Geflüchtete fern der Hamburger Innenstadt in Containern. Für viele dauert der Aufenthalt jahrelang.
Abena Oppong (Name geändert) hat die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, als sie aus dem Bus steigt. Zwei Stunden war sie gerade unterwegs. Einmal nach Altona und zurück. Sie hat ihre Tochter in die Kita gebracht. „Ich bin es so leid“, sagt sie auf Englisch. „Diesen Ort, diese langen Fahrten.“ Vor zweieinhalb Jahren sei sie nach Deutschland geflohen, seitdem lebe sie hier. Und wartet darauf, dass sie es nicht mehr muss.
Die Flüchtlingsunterkunft „Neuenfelder Fährdeich“ liegt dort, wo das Alte Land beginnt und Hamburg endet. Inmitten von Apfelplantagen, zwischen den Orten Cranz, Neuenfelde und Finkenwerder. Schon bevor im April 2016 die ersten Menschen einzogen, kritisierten Bevölkerung und Bezirkspolitik das Container-Dorf: Es sei zu abgelegen, zu schlecht angebunden, zu eng. Die Kritik hält an. Im November stellte die Linke Bürgerschaftsfraktion eine Anfrage an den Senat. Sie schrieb: „Wie wird eine so abgelegene Unterkunft dem Recht auf soziale Teilhabe gerecht?“
Der „Neuenfelder Fährdeich“ stammt aus einer Zeit der Not. Aus dem Jahr 2015, als Hunderttausende nach Europa flüchteten. Hamburg nahm damals 22.315 Menschen auf, dreimal so viele wie im Vorjahr. Sie brauchten Schlafplätze, so schnell und so günstig wie möglich. Also ließ die Stadt Zelte aufschlagen und Betten in Gewerbehallen stellen. Man mietete Flächen für Holzhäuser und Container. Die „Vermeidung von Obdachlosigkeit“ hatte damals oberste Priorität, schreibt die Sozialbehörde in einem Bericht.
Zu lange Fahrt zum Sprachkurs
Die „prekären“ Unterkünfte baute sie in den folgenden Jahren wieder ab: Zelte und Hallen. Auch einige Container-Anlagen wurden geschlossen. Nicht die am Neuenfelder Fährdeich. 2020 wurde die Miete um drei weitere Jahre verlängert. Heute leben hier vor allem Menschen aus humanitären Hilfsprogrammen: afghanische Ortskräfte, Geflüchtete aus Lagern in Griechenland und der Türkei.
Das Heim sei als „erster Anlaufpunkt“ gedacht, schreibt die Sozialbehörde auf die Anfrage der Linken, für eine „zügige Verlegung“ in den Stadtbereich oder eine Wohnung. Zügig läuft es bisher nicht: Im Schnitt bleiben die Menschen eineinhalb Jahre auf dem Werftparkplatz. Vier Jahre dauerte der längste Aufenthalt.
Im ersten Stock eines Container-Baus hämmert Abena Oppong an die Zimmertür ihrer Freundin: „Alice!“ Im Flur steht ein Buggy, Babystrampler trocknen über der Heizung. Zehn Container sind über den Gang verbunden, je 14 Quadratmeter für zwei Personen. Alice Mensah (Name geändert) öffnet die Tür.
Die Frauen haben sich an diesem Ort kennengelernt, sie kommen aus demselben Land in Afrika. Ihre echten Namen und Nationalitäten sollen hier nicht stehen – sie wollen keinen Ärger mit der Heimleitung. Mensah sagt, sie lebe seit fast drei Jahren hier: „Ich sitze nur in meinem Zimmer.“ Die Fahrten nach Altona, etwa zum Sprachkurs, seien ihr zu lang. Allein um Windeln zu kaufen, brauche sie eine halbe Stunde mit dem Bus. Mensahs Kinder hätten keinen Kita-Platz. Sie sagt: „Den ganzen Tag spielen sie hier auf dem Flur, wo die Leute rauchen. Draußen ist ja nicht mal ein Sandkasten.“
Über die Hälfte der 252 Bewohner*innen sind Kinder und Jugendliche. Für sie gibt es ein Basketballfeld mit Korb, ein Fußballtor, eine Tischtennisplatte. Von den Älteren gehen fast alle zur Schule. Von den Jüngeren besuchten im Mai 2021 nur vier eine Kita.
Carola Ensslen, Abgeordnete der Linken Bürgerschaftsfraktion, findet: „Das ist eine Katastrophe. Diese Menschen sind vulnerabel. Und dann kommen sie in so eine Gegend, in der sie kaum angebunden sind an Unterstützungsangebote.“ Sie zählt auf: Fachärzte, Rechtsberatung, Psychologische Betreuung – alles zu weit weg.
„Das ist ein Problem“, sagt auch Olaf Kleist, Politikwissenschaftler am Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung. „Externe Beratungen müssen einfach zugänglich sein. Sie sind wichtig für den Gewaltschutz und die gesundheitliche Stabilisierung.“ Generell bestimme die Lage einer Unterkunft die Teilhabechancen, sagt Kleist. „Wenn Geflüchtete fernab leben, fällt ihnen der Anschluss an den Alltag in Deutschland schwerer.“
Lange war der Anschluss gar nicht so schlecht. Weil die Unterkunft nicht ins Dorf kam, kam das Dorf in die Unterkunft. Bürger*innen luden mit der Initiative „Willkommen in Neuenfelde“ zum Sommerfest ein, sie besuchten die Bewohner*innen zum Kaffeetrinken, begleiteten sie zu Behörden und spendeten Kleider. 2016 gewann die Initiative den Harburger Bürgerpreis.
Heute herrscht Funkstille. „Im Laufe der Zeit ist das Projekt eingeschlafen“, sagt Sabine Heinemann, eine der Initiator*innen. Seit Corona ist der Zugang zur Unterkunft erschwert. Das merken auch die „Falkenflitzer“. Jeden Donnerstag fahren sie mit einem Wohnmobil auf den Parkplatz, packen Bälle aus, Hula-Hoop-Reifen, Malsachen und spielen und reden mit den Kindern. Seit Weihnachten geht das nicht mehr: zu viele Coronafälle. Die Pandemie verschärft die Isolation.
Eine Sozialarbeiter*in für 42 Geflüchtete
In der Unterkunft selbst arbeiten sechs Sozialarbeiter*innen. Das bedeutet: eine Person für 42 Geflüchtete. Sie sollen ihnen bei Fragen rund um Jobcenter, Einwohnermeldeamt, Bank, Krankenkasse, Schule und Kita helfen. „Das sind zu wenig“, findet Carola Ensslen. Sie plant deshalb einen Runden Tisch. Flüchtlingszentrum, Bezirksamt, Jobcenter, Heimleitung, Sozial- und Innenbehörde sollen diskutieren, wie man die Versorgung verbessern kann. Den Antrag hat sie schon geschrieben.
Es gibt auch Stimmen, die das Heim weniger kritisch sehen. Angelika Friedrich von den „Falkenflitzern“ sagt: „Aus den fünf Jahren, die ich hier arbeite, habe ich den Eindruck: Den Kindern geht es gut. Sie können hier am Stadtrand zur Ruhe kommen. Und in Schulen, Kitas und Sportvereine werden sie sehr gut integriert.“ Auch eine junge Bewohnerin findet das Heim „okay“. Sie sei das schon gewohnt. „Diese Unterkünfte sind alle gleich“, sagt sie.
Im Container-Flur schüttelt Alice Mensah den Kopf: „Sie sollten diesen Ort schließen.“ Ihre Freundin Abena Oppong nickt und schaut auf ihr Handy. In ein paar Stunden muss sie wieder los, um ihre Tochter abzuholen.
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