Geflüchtete im Heim alleine gelassen: Ungesunde Unterkunft
700 Menschen leben dicht gedrängt in der Erstaufnahmeeinrichtung Lindenstraße in Bremen. Sie fürchten um ihre Gesundheit und wollen verlegt werden.
BREMEN taz | Die Bewohner:innen in der Geflüchteten-Erstaufnahmeeinrichtung Lindenstraße (EAE) wollen evakuiert werden. Denn hier fühlen sie sich nicht mehr sicher: Sollte in der Unterkunft eine Person mit dem Corona-Virus infiziert werden, sagt ein Bewohner besorgt, ist das Risiko hoch, dass es alle bekommen.
„Wenn wir zum Essen gehen, stehen wir dicht in einer Schlange beisammen.“ Das gesamte Besteck liege in einem Kasten, das Brot nehme man sich mit der Hand. „Alle fassen alles an.“ Erst vor zwei Tagen habe die Sozialbehörde die Bewohner:innen erstmalig kontaktiert.
„Das ist fahrlässige Nicht-Informationspolitik“, sagt Gundula Oerter vom Flüchtlingsrat Bremen. In der EAE leben rund 700 Menschen auf engstem Raum zusammen. „Alles, was den Menschen außerhalb der Lager jetzt dringend zu vermeiden geraten wird, ist in der EAE System.“ Erst am Dienstagnachmittag habe die Sozialbehörde Informationen zum Corona-Virus an die Bewohner:innen verteilt. Vorher soll es keine Kommunikation gegeben haben – geschweige denn Desinfektionsmittel. „Es herrschen miserable hygienische Zustände“, sagt Oerter, deren Verein mit einigen Bewohner:innen gesprochen hat.
Desinfektionsmittel ist derzeit bundesweit knapp, sagt Bernd Schneider, Sprecher der Sozialsenatorin: „Selbst in Kliniken gibt es Engpässe.“ Inzwischen gebe es die Zusage des Bundes, solche Mittel beschleunigt zu beschaffen. Bei der Verteilung aber hätten die Einrichtungen des medizinischen Betriebs Vorrang.
Anna Fischer, Die Linke
Auf den inzwischen in der EAE verteilten Informationszetteln stehe, sagt der Bewohner, der anonym bleiben möchte, wie das Virus übertragen werden kann, was Symptome sind und an wen man sich wenden muss, sollte man Symptome haben. Auch sei den Bewohner:innen inzwischen persönlich erklärt worden, was zu beachten sei. „Uns wurde gesagt, wir sollen nur in wichtigen Fällen rausgehen.“ Andere Vorsichtsmaßnahmen gebe es nicht.
„Wir brauchen mehr Abstand beim Essen und Desinfektionsmittel an den Eingängen“, sagt der Bewohner. Und einen sichereren Ort zum Leben als diesen: „Wir sind alle in einem Gebäude eingeschlossen.“ In den Schlafräumen ohne Fenster leben rund sechs Personen, sagt er, die Betten stehen dicht an dicht. Lüften sei sehr schwierig.
Schneider widerspricht: „Die Erstaufnahme wird von einer zentralen Belüftungsanlage versorgt, wie das in großen Immobilien üblich ist; in den Fluren lassen sich darüber hinaus auch Fenster öffnen.“
Bereits am 28. Februar sei die Einrichtung zudem mit einem strikten Besuchsverbot belegt worden, sagt er. Auch seien vor zwei Wochen die Reinigungsintervalle verdoppelt worden. „Oberflächen und Türklinken werden regelmäßig desinfiziert, und auf die erforderliche Handhygiene wird zudem ausdrücklich hingewiesen.“ Es gebe, so Schneider, überdies Aushänge vom Robert-Koch-Institut in zahlreichen Sprachen, die ausdrücklich für den Aushang in Flüchtlingseinrichtungen vorgesehen seien.
Der Flüchtlingsrat fordert die Evakuierung der Einrichtung. „Es gibt freie Kapazitäten in Übergangswohnheimen und leerstehenden Containern“, sagt Oerter.„Wir befürchten, dass die EAE als nächstes dichtgemacht wird. Das wäre fatal.“ Es sei nicht auszuschließen, dass dort dann aufgrund der „unerträglichen Gesamtsituation“ Panik ausbricht.
Ob die EAE dichtgemacht wird, sei eine Entscheidung des Ordnungsamts, sagt Schneider.Außerdem gebe es „keine freien Einrichtungen in Bremen, die sich für die Erstaufnahme eignen.“ Bremen habe sich von allen Einrichtungen getrennt, die für die Versorgung von Geflüchteten perspektivisch nicht mehr erforderlich gewesen seien. „Der Ausbruch der Pandemie gehört zu den Jahrhundertereignissen, dafür lässt sich eine ständige Vorsorge kaum treffen“, sagt er.
Linke fordert Schließung
Die Bremer Linke fordert indes ebenfalls die sofortige Schließung der EAE und die Verteilung der Menschen auf bessere Unterkünfte oder Hotels. „Auch für Bewohner*innen von Geflüchteten-Unterkünften muss soziale Distanzierung möglich sein“, sagt Anna Fischer, Sprecherin für Flucht und Migration im Linken-Landesvorstand. Es müsse die Möglichkeit geben, alles tun zu können, um sich zu schützen – „wie alle anderen Menschen auch.“
Gerade aufgrund der Nicht-Absehbarkeit der Situation sei die Unterkunft zu schließen. Die „massiven Eingriffe in die Lebensumstände“, die in der EAE ohnehin schon „mehr als grenzwertig sind“, so Fischer, seien, auf einen längeren Zeitraum gesehen, unzumutbar. „Eine Schließung der Erstaufnahme ist rechtlich und faktisch nicht möglich“, heißt es dazu aus der Sozialbehörde.
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