Gefängnisse in Corona-Pandemie: „Das ist ein Pulverfass“
Die Justiz reagiert spät auf die Corona-Pandemie. Nun werden Prozesse ausgesetzt, Gefängnisse legen Notfallpläne an. Inhaftierte sind in Sorge.
Tatsächlich gab es auch in Haftanstalten schon vereinzelte Corona-Verdachtsfälle. In Mönchengladbach wurde ein Gefangener in Quarantäne genommen, nachdem er mit einer positiv getesteten Person von außerhalb Kontakt hatte. In Braunschweig zeigte ein Neuinhaftierter am Freitag Corona-Symptome. Für die Haftanstalt wurde darauf ein „Generaleinschluss“ für alle Gefangenen verfügt, der nach zwei Stunden allerdings aufgehoben wurde. Ein Testergebnis des Betroffenen stehe weiterhin aus, sagte ein Sprecher des niedersächsischen Justizministeriums am Montag der taz.
In mehreren Bundesländern wurden inzwischen Notfallpläne für die Haftanstalten vorbereitet. Hygienevorschriften wurden verschärft, Betten in Justizkrankenhäusern freigeräumt oder Personalreserven aufgebaut, falls Justizpersonal krank ausfällt. Ein Problem aber: Schon heute kommen in vielen Gefängnissen nur ein Arzt oder eine Ärztin auf mehrere hundert Inhaftierte. Bei einer größeren Erkrankungswelle dürften große Schwierigkeiten bevorstehen.
Besuchssperren möglich
In Heinsberg in NRW, das besonders stark vom Coronavirus betroffen ist, dürfen Inhaftierte in der örtlichen JVA keinen Besuch mehr empfangen, nur noch Anwälte in dringlichen Angelegenheiten. Baden-Württemberg verhängte nun am Montag ein landesweites Besuchsverbot in allen Haftanstalten. Justizminister Guido Wolf (CDU) sprach von einer „einschneidenden“, aber notwendigen Maßnahme, um Gefangene und Bedienstete zu schützen. Als Ausgleich würden Telefonzeiten der Inhaftierten ausgeweitet.
Hans-Christian Rümke, justiz-Sprecher
Anderenorts ist man mit Einschränkungen zögerlicher. Es gebe einen Rechtsanspruch auf Besuch, zudem wolle man die Inhaftierten nicht völlig isolieren, heißt es aus anderen Ländern. Teilweise würden die Gefangenen aber gebeten, freiwillig auf Besuch zu verzichten oder diesen hinter Scheiben in Empfang zu nehmen.
Marco dos Santos, ein Sprecher der bundesweiten „Gefangenengewerkschaft“, sagte der taz: „Wir sehen mit der Corona-Pandemie ein Pulverfass in den Gefängnissen.“ Schon heute herrsche in den Haftanstalten eine „teils katastrophale medizinische Versorgung“. Der Corona-Virus könnte dies „dramatisch verschlechtern“. Auch dürften Gefangene nicht über Wochen in ihren Zellen weggesperrt werden. „Nach Fieberkontrollen müssen Hofgänge und Besuch möglich bleiben. Auch sollten den Gefangenen eingehende Telefonate in den Zellen erlaubt werden.“ Dos Santos fordert, Freigänger vorerst nicht mehr zurück in die Gefängnisse zu schicken und Kurzzeitfreiheitsstrafen auszusetzen.
Tatsächlich setzten Berlin, Niedersachsen und Baden-Württemberg sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen vorerst aus. Das betrifft etwa notorische Schwarzfahrer, die Geldstrafen nicht zahlen wollen oder können. Deren Haftantritt wird nun um mehrere Monate aufgeschoben. In Berlin sollen auch die noch rund 270 Personen, die mit Ersatzfreiheitsstrafen einsitzen, nach und nach entlassen werden. Es gehe darum, eine Ansteckungsgefahr zu reduzieren und medizinische Ressourcen zu bündeln, so ein Sprecher der Berliner Justizverwaltung.
„Auf Großprozesse verzichten“
Unter Justizbediensteten und AnwältInnen wuchs zuletzt zudem die Unruhe, weil trotz der Pandemie weiter Prozesse verhandelt werden. Es gebe eine Fürsorgepflicht auch für Verfahrensbeteiligte, hieß es dort. Das Problem: Gänzlich ausgesetzt werden können gerade Prozesse mit inhaftierten Angeklagten nicht, da für diese eine Unschuldsvermutung gilt und sie nicht unbegrenzt eingesperrt werden können. Zudem kann dies auch nicht von oben angeordnet werden, da RichterInnen über die Prozessführung unabhängig entscheiden.
„Großprozesse sollte man in der jetzigen Situation eher nicht mehr durchführen“, forderte Ulrike Paul, Vizepräsidentin der Bundesrechtsanwaltskammer. Gleichzeitig müssten aber Übergangsregelungen gefunden werden, damit länger pausierende Prozesse nicht neugestartet werden müssten. „Da braucht es eine schnelle gesetzliche Regelung.“ Paul appellierte zudem an die Gerichte, jetzt „flexibel und kulant auf die aktuelle Lage zu reagieren“.
Am Montag appellierten auch die Justizministerien in Baden-Württemberg, Schleswig-Holstein oder Berlin, Verhandlungen „auf ein Minimum“ zu reduzieren. Auch der Zugang zu Justizgebäuden sei einzuschränken. Baden-Württembergs Justizminister Wolf sagte: „Diese historische Situation erfordert auch für die Justiz Maßnahmen, wie sie in der Geschichte Baden-Württembergs bislang noch nicht notwendig waren.“ Eilentscheidungen und solche in Haft- oder Familiensachen sowie langlaufende Strafverhandlungen würden aber weiter verhandelt.
Prozesse ausgesetzt oder mit Auflagen
In mehreren Gerichten bundesweit wurden bereits seit Tagen keine Besuchergruppen mehr in die Gebäude gelassen. ZuhörerInnen in den Prozessen müssen aber erlaubt bleiben, da Verhandlung grundsätzlich öffentlich sind. Am Montag nun setzten mehrere Gerichte Prozesse aus, andererorts wurden Auflagen verhängt. So verordnete etwa das Landgericht Freiburg, in dem ein Großprozess wegen einer Gruppenvergewaltigung mit allein elf Angeklagten verhandelt wird, eine Obergrenze von 50 Personen in den Sitzungssälen. Im Publikum sei jeder zweite Platz freizuhalten.
Baden-Württembergs Justizminister Wolf erklärte: „Es muss sich niemand Sorgen machen. Der Rechtsstaat funktioniert auch in der Krise.“ Auch ein Sprecher der niedersachsischen Justizministerin Barbara Havliza (CDU) stellte klar: „Der Zugang zum Recht soll und darf nicht verhindert werden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag