Gedenklesung für Enzensberger: Die verwundete Gitarre
Der Suhrkamp-Verlag lud zur Lesung im Gedenken an Hans Magnus Enzensberger. Sein Bruder Ulrich Enzensberger erzeugte einen bewegenden Augenblick.
Ulrich Enzensberger ist der jüngere Bruder des im vergangenen November gestorbenen Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger. Er war einst Mitbegründer der legendären Kommune 1 und ist selbst Autor, und er hielt ein Buch hoch. Das Buch habe er auf der Straße gefunden, sagte er, „Lieblose Legenden“ von Wolfgang Hildesheimer. Und darin habe sich ein Gedicht seines Bruders befunden, ob er das noch verlesen dürfe?
Natürlich durfte er, und so trat Ulrich Enzensberger, der seinem Bruder inzwischen auf eine rührende Weise ähnlich sieht – die gleiche hagere Figur, die gleiche markante Nase –, nach vorne ans Mikrofon.
Suhrkamp hatte in die Verlagsvilla an der Rehwiese in Berlin-Nikolassee geladen. „Ein Fest für Magnus, keine Trauerfeier“, solle es werden, hatte Ulla Unseld-Berkéwicz in ihrer Begrüßung gesagt. Autor*innen, Verlagsleute, Journalisten, Professoren waren gekommen. Auch jenseits des unmittelbaren Anlasses kamen leicht sentimentale Gefühle auf. Es war mal wieder eine Veranstaltung des Literaturbetriebs wie zur Zeit, bevor Corona alles im Griff hatte (eine Nebenerkenntnis dabei: Einen Coronaroman will wirklich niemand lesen, man kann nur abraten, so etwas schreiben zu wollen; die Pandemie wollten beim Smalltalk eigentlich alle hinter sich lassen).
Ein rein männliches Line-up – die Autoren Christoph Ransmayr, Ralf Rothmann, Lutz Seiler, Durs Grünbein – hatte als Hauptprogrammpunkt des Abends Enzensberger-Gedichte gelesen, Gesänge aus dem „Untergang der Titanic“, Übertragungen aus dem „Museum der modernen Poesie“, Klassiker wie „Die Dreiunddreißigjährige“ oder das „Lied von denen, auf die alles zutrifft und die alles schon wissen“.
Verwandelt in den Bruder
Das war alles schon recht schön, und die intellektuelle Figur Enzensbergers, seine „beeindruckende Intelligenz“, seine schriftstellerische „ökonomische Effektivität“ standen im Raum. Und dann kam eben Ulrich Enzensberger, inzwischen 78 Jahre alt, nach vorne und schien sich – die Lyrik kann das offenbar – geradezu in seinen Bruder zu verwandeln.
Er hatte schon bei den Lesungen der anderen Autoren mit seinem Oberkörper rhythmisch mitgeschwungen. Nun las er selbst das in dem von ihm gefundene Buch gefundene Gedicht „Schläferung“: „lass mich heut nacht in der gitarre schlafen / in der verwundeten gitarre der nacht / lass mich ruhn …“
In diesem Moment war ganz klar, was ein Gedicht ist oder zumindest sein kann, ein Gefühlsspeicher, eine Unmittelbarkeit, eine Form der Näheherstellung. Das war ein bewegender Augenblick.
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