Gedenkjahr in Berlin: Bilder der Vielfalt
Als Höhepunkt des Berliner Themenjahres zum 75. Jahrestag der Pogromnacht zeigen Jugendliche mit Tausenden kleinen Filmen, was Vielfalt heute für sie bedeutet.
Die Zeichentrickmädchen tuscheln. „Hast du die gesehen?“, fragt eines und deutet auf zwei knutschende Jungs. „Yeah! Na und?“, antwortet das andere, „du bist kleinkariert!“ „Kleinkariert“ wird schwarz und fett um zwei glotzende Augen herumgeschrieben. Dann tanzen die Worte „Love is love“ über den Bildschirm.
Zum 75. Jahrestag der Novemberpogrome 1938 wird an diesem Wochenende der abschließende Höhepunkt des Gedenkjahres "Zerstörte Vielfalt" mit zahlreichen Veranstaltungen gefeiert.
Für den 9. November wird stadtweit zum Putzen der Stolpersteine aufgerufen, verschiedene Treffpunkte für Putzspaziergänge gibt es um 10 Uhr (siehe Website). Am Deportationsmahnmal in der Levetzowstraße 7 in Moabit findet um 17 Uhr eine Gedenkkundgebung und antifaschistische Demonstration der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschisten statt. Am 10. November ab 17 Uhr stellen Jugendliche ihre selbst gedrehten Filme zum Thema Vielfalt am Brandenburger Tor vor. Infos zu allen Veranstaltungen: www.berlin.de/2013/veranstaltungen
Auch der Revolution von 1918/19 wird am 95. Jahrestag gedacht: etwa am 9. November um 11 Uhr auf dem Friedhof der Märzgefallenen, Landsberger Allee/Ernst-Zinna-Weg, Friedrichshain
Dieser 30-sekündige Film läuft derzeit auf den Bildschirmen der U-Bahn und ist eines von mehr als 3.000 Videos, die für die Mitmach-Aktion „Unsere Vielfalt nimmt uns keiner mehr!“ entstanden sind. Die Aktion ist Teil des Berliner Gedenkjahres „Zerstörte Vielfalt“ anlässlich des 80. Jahrestags der Machtübernahme der Nationalsozialisten und des 75. Jahrestags der Novemberpogrome. Zwölf Monate lang gab es in Berlin über tausend Veranstaltungen zu dem Thema, mit den Videos der Jugendlichen klingt am morgigen Sonntag am Brandenburger Tor das Gedenkjahr aus.
Die Organisatoren des Gedenkjahres von der Kulturprojekte Berlin GmbH hatten junge Leute dazu aufgerufen, kurze Filme zu produzieren, ausdrücklich auch Handyvideos, die zeigen, was Vielfalt heute für die Jugendlichen bedeutet. Taalea Bischoff, Macherin von „Love is love“, fühlte sich da gleich an ein persönliches Erlebnis erinnert: „Wir hatten mal ein lesbisches Pärchen an der Schule, über das hinter vorgehaltener Hand geredet wurde“, sagt die 17-Jährige. „Das hat mich echt geärgert.“ Homosexuelle würden zwar meist nicht offen angegriffen, „aber manche Leute sprechen darüber, als sei es ihnen unangenehm. Das ist auch schlimm: Die Betroffenen können sich schlecht wehren und werden als übersensibel abgestempelt.“
Für ihren Film zeichnete Bischoff einen Tag lang an über 200 Bildern ihrer schwarz-weißen Figuren. „Die Stelle mit dem ’kleinkariert‘ hat am meisten Spaß gemacht“ sagt sie. Jetzt klingelt ständig ihr Handy, weil Freunde sich melden, die das Video in der U-Bahn gesehen haben. „Manche schicken mir Fotos davon oder fahren so lange mit der Bahn, bis sie es zu sehen bekommen.“ Taalea Bischoff ist Schülerin der Sophie-Charlotte-Oberschule in Charlottenburg, an der sie einen Wahlpflichtkurs in Filmproduktion besucht. Hier machen die Schüler das ganze Jahr über eigene Filme – in den vergangenen vier Wochen arbeiteten sie an denen für die Vielfalt-Aktion. Zehn Videos haben die Schüler aus dem Kurs am Ende eingereicht.
Am vorigen Montag saß der Kurs zusammen und sah die Videos das erste Mal gemeinsam an. Manche Filme handeln von konkreten Diskriminierungen und Verboten aus der Nazizeit – und von dem, was wäre, wenn diese heute gelten würden. Andere zeigen einfach gut gelaunt die Vielfalt des heutigen Berlin.
Eine Gruppe Mädchen hat das damalige Verbot mancher Musik aufgegriffen: Auf der Leinwand tanzen die Mädchen in einem Club, bis sie sich plötzlich nur noch im Gleichschritt zu Marschmusik bewegen dürfen. Ein anderes Team greift Stereotype über die Herkunft von Mitschülern auf und dekonstruiert sie mit Statements wie: „Ich bin Türke und Vegetarier“, oder: „Ich bin Afroamerikanerin und kann kein Basketball spielen.“ Andere witzeln mit Berlinbezug: „Sei viel, sei faltig, sei Berlin.“
Als Lehrerin und Kursleiterin Sabine Strehlow vor ein paar Wochen vorschlug, Videos für das Vielfaltprojekt zu produzieren, hätten das gleich alle gut gefunden, sagt die 18-jährige Schülerin Katarina Ollech – „obwohl wir vom Reden über die Nazizeit eigentlich ein bisschen genervt sind. Das machen wir zurzeit in jedem Fach.“ Aber hier sei das anders: „Es geht nicht nur um früher, sondern auch um heute. Und wir kriegen nicht nur was erzählt, sondern können unsere Statements dazu abgeben.“
Sie seien durch die Aktion auch ins Nachdenken gekommen, ergänzt die 17-jährige Emilia Köhler. „Wir nehmen es immer für selbstverständlich, dass Unterschiede cool sind. Dabei ist die NS-Zeit eigentlich gar nicht so lange her – und da hätte ich vielleicht meine Musik nicht hören dürfen.“ Durch das Projekt sei ihnen bewusster geworden, welchen Effekt solche Verbote wie zur Nazizeit auf ihr Leben konkret haben könnten.
„Emotionale Brücke“ nennt Moritz van Dülmen das, Geschäftsführer der Kulturprojekte Berlin GmbH. Er findet, es sei recht gut gelungen, eine solche Brücke zu schlagen. „Jugendliche sind die Hauptzielgruppe des Projektjahres“, sagt er. „Das klingt immer so pathetisch: Aber sie sind nun mal die Zukunft.“
Van Dülmen zieht eine positive Bilanz der Videoaktion: „Rund die Hälfte der Berliner Schulen hat sich beteiligt.“ Am Sonntagabend werden alle Videos als ein Höhepunkt und Ausklang des Gedenkjahres am Brandenburger Tor gezeigt werden.
Taalea Bischoff, Katarina Ollech, Emilia Köhler und die anderen aus dem Filmkurs werden dort sein. Auf der Bühne sitzen dann auch die Zeitzeugen Margot Friedländer, Inge Deutschkron und Coco Schumann und übergeben der jungen Generation symbolisch die Verantwortung für die Erhaltung der Vielfalt in Zukunft.
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