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GedenkenDie Vielfalt der Gegenwart

Die Jüdische Gemeinde Berlin erinnert an die Pogrome vor 75 Jahren. Der Gemeindevorsitzende Gideon Joffe weist mit radikalen Sichtweisen auf alltäglichen Antisemitismus hin.

Gedenken vor der Synagoge in der Oranienburger Straße Bild: DPA

„Hos geldin – herzlich willkommen“: Auf Türkisch begrüßt der Empfangsherr zwei alte Damen, die die Eingangshalle des Jüdischen Gemeindehauses in der Fasanenstraße betreten. Auf Türkisch bedanken die beiden sich und wechseln dann in die nächste Unterhaltung: auf Russisch. Die zerstörte Vielfalt: dass Berlin ihr im 75. Jahr nach den antisemitischen Novemberpogromen und dem 80. nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ein ganzes Jahr der Erinnerung gewidmet hat, wurde gewürdigt bei der Gedenkveranstaltung an die Pogrome, die in der Jüdischen Gemeinde zu Berlin am Samstag stattfand. Ob aber „das Gedenken uns immun macht“, wie der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) in seiner Ansprache sagte, dazu gab es durchaus verschiedene Ansichten.

Die Vielfalt: Sie ist glücklicherweise längst wieder da in Berlin und auch in der Jüdischen Gemeinde der Hauptstadt, wo im Mai 1945 nur 8.000 von einst 160.000 jüdischen BerlinerInnen die Nazizeit überlebt hatten. Polnisch, Russisch, amerikanisches Englisch, Deutsch, Jiddisch, Hebräisch und eben Türkisch wird gesprochen bei dem Empfang im Jüdischen Gemeindehaus. Und auch das Bild, das die gut 600 Gäste der Gedenkveranstaltung bieten, ist vielfältig: junge Männer mit schwarzen Gehröcken und langen Bärten, Frauen in Miniröcken oder bunten Jeans. Unter den Gästen eine Menge Prominenz: unter anderen die Botschafter Israels, der USA, Großbritanniens, Polens, Diplomaten aus der Türkei, Ungarn, Österreich, Litauen, die Vorsitzenden und viele Mitglieder der Berliner Abgeordnetenhausfraktionen. Bischof Markus Dröge, Kardinal Rainer Maria Woelki, der Charlottenburg-Wilmersdorfer Bezirksbürgermeister Reinhard Naumann (mit Kippa), die stellvertretende Polizeipräsidentin Margarete Koppers. Auch Richard Dreyfus war da, ein Enkel des Rabbiners Leo Baeck, von 1912 bis 1942 eine wichtige Persönlichkeit in der Jüdischen Gemeinde. 1943 wurde Baeck nach Theresienstadt deportiert – er überlebte das Lager und sagte 1945 den Satz: „Die Epoche der Juden in Deutschland ist ein für alle Mal vorbei.“

Wie froh Berlin heute darüber ist, dass Baeck sich irrte, hob Klaus Wowereit in seiner Rede hervor. Er betonte die Anstrengungen der Stadt, die Erinnerungen an die den Juden angetanen Verbrechen wachzuhalten: das „Gedenken als Versprechen für die Zukunft“, damit „solches Unrecht nie wieder geschieht“. Dass das Wissen um solch geschehenes oder geschehendes Unrecht allein vielleicht aber nicht reicht, um erneutes zu verhindern – das machten SchülerInnen des Jüdischen Gymnasiums deutlich, die mit Ton- und Klanginstallationen und kurzen Lesungen die Reden umrahmten. Etwa mit diesem Ausschnitt aus einer Radioansprache Thomas Manns von 1941, die der damals bereits in die USA emigrierte deutsche Literaturnobelpreisträgers an die Deutschen richtete: „Kann ein Volk tiefer sinken? Das Unaussprechliche, das mit den Juden geschieht, wisst ihr, wollt es aber lieber nicht wissen.“

Wie aktuell, wie zeitgenössisch Antisemitismus trotz der wiedergewonnenen Vielfalt Berlins und seiner jüdischen Gemeinde ist, hob der Gemeindevorsitzende Gideon Joffe in seiner Ansprache hervor – mit sehr deutlichen Worten: Gerade dass der Antisemitismus in Deutschland so eng mit dem Gedenken an die Schoah verbunden sei, stehe der Auseinandersetzung mit dem heutigen Antisemitismus im Wege. Joffe erinnerte an die jüngsten Debatten etwa über Beschneidung oder das Schächten von Tieren: Als „grausame mittelalterliche Rituale“ seien diese Praktiken, die für gläubige Juden „absolute Verpflichtung“ seien, in der Debatte beschrieben worden: „Wir Juden mussten wieder einmal unsere jahrtausendealte Identität rechtfertigen.“ Wer denke, dass Beschneidung oder Schächten verboten gehöre, „der denkt antisemitisch“, so Joffe: „Und der Gedanke ist immer ein Vorläufer der Tat.“

In seinen die Veranstaltung abschließenden Worten vor dem Gebet am Mahnmal, das vor dem heutigen Gemeindehaus in der Fasanenstraße an die Synagoge erinnert, die 1938 dort brannte, forderte der Gemeinderabbiner Yitzhak Ehrenberg die Gemeindemitglieder deshalb auf, sich nicht zu assimilieren. Denn die Nazis hätten nicht unterschieden zwischen „dem Juden mit Bart“ und dem, „der gar nicht mehr wusste, dass er Jude war“, so der Rabbiner: „Unsere Aufgabe muss deshalb sein, jüdische Identität und Tradition an unsere Kinder zu vermitteln. Nur dann lebt die jüdische Welt weiter.“

Am Ende der Gedenkveranstaltung, als sich der Hof vor dem Gemeindehaus nach dem Kaddisch-Gebet leert, ist ein Großteil der im Gemeindehaus getragenen Kippot nicht mehr zu sehen, sondern unter Hüten oder Basecaps versteckt. Das mag am Regen liegen.

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4 Kommentare

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  • V
    Vollkornkartoffeln

    Erschreckend, wie Herr Joffe mir mit diesen Worten Antisemitismus unterstellt. Ja, ich stelle das Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie das Recht der Tiere, soweit möglich leidlos sterben zu müssen, über jede Religion. Das ist völlig unabhängig von der Art des Glaubens. Es soll jedem nach Belieben seine Religion gegönnt sein, aber nicht auf Kosten anderer, schwächerer.

    Ich kämpfe jeden Tag gegen Antisemitismus und Alltagsrassismus. Wirklich schade, dass Herr Joffe solche Bemühungen mit Füßen tritt, indem er mich in die gleiche Ecke wie irgendwelche dumpfen Neonazis stellt.

  • die deutschen haben binnen wenige jahre 65% der jüdischen weltbevölkerung ausgelöscht und z.b. in den 70ern wieder juden "selektiert" (RAF terrorärsche).

     

    die deutschen haben auf ewig jedes recht verloren, sich in jüdische angelegenheiten einzumischen und den juden vorschriften zu machen.

     

    so einfach ist es.

     

    heute gibt es zum glück israel. das gab es zwischen 33-45 nicht.

  • A
    ama.dablam

    Ich bin mit dem LG Köln weiterhin der Ansicht, dass die Beschneidung von Unmündigen eine tatbestandsmäßige Körperverletzung ist, für die die Religionszugehörigkeit der Anstifter weder diesen noch dem ggf. Handelnden einen anerkennenswerten Rechtfertigungsgrund zur Seite stellt(e) - die Neufassung des § 1631d BGB mag hier erstmal geholfen haben.

     

    Wenn das als antisemitisch empfunden wird, nun gut, ich bewege mich damit gleichwohl auf dem Boden des Grundgesetzes. Diesen würde ich, trotz meiner "antisemitischen" Meinung, nicht verlassen. Allerdings ist ein Phänomen, das auf religiösen Anschauungen basiert, deshalb noch lange nicht sakrosankt - das gilt ausnahmslos für alle Weltanschauungen.

  • R
    Rerun

    Nein, Herr Joffe. Sie müssen sich nicht für Ihre Identität rechtfertigen. Sie müssen sich für Ihr Handeln rechtfertigen. Und das ist nicht mit einem Hinweis auf jahrtausendealte Tradition getan. Anstatt sich endlich einmal mit diesem Handeln auseinander zu setzen, meint man, dass es mit einem Hinweis auf Antisemitismus getan ist und trägt wieder ein Stück zur Entwertung dieses Begriffes bei.