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Gedenken an Opfer des Nationalsozialmus„Wir tragen die Erinnerungen mit uns“

In Leipzig liegen nun über 800 Stolpersteine, einer davon erinnert an Sprintza Podolanski. Zuletzt waren Steine beschädigt oder entwendet worden.

Neu verlegte Stolpersteine in Leipzig erinnern an Walter, Hans und Albert Schreiber und an Ilse Simonson Foto: David Muschenich

Leipzig taz | Ihre kurze Rede beginnt Irit Weisel mit einem Dankeschön. Es ehre ihre Großmutter Sprintza Podolanski, dass so viele zu der Verlegung des Stolpersteins gekommen seinen, der an sie erinnert. Der Gehweg in der Berliner Straße in Leipzig ist zu schmal für die Gruppe von rund fünfzig Personen. Die Stelle liegt im Schatten, es ist noch etwas kühl. Um Weisel besser zu verstehen, drängt ein Teil auf die Fahrbahn – offenbar unbeeindruckt vom fließenden Verkehr.

Weisel erzählt in knappen Sätzen von ihrer Großmutter, die als Jüdin von den Nazis verfolgt wurde. Während Podolanskis Kinder nach Großbritannien fliehen konnten, lebte sie in einem sogenannten „Judenhaus“ mit fünf anderen Frauen auf engstem Raum. Am 3. Mai 1942 wurde sie ins von Deutschland besetzte Polen deportiert und dort ermordet.

Weisel selbst lebt in Israel und ist für die Steinverlegung nach Leipzig gekommen, ebenso wie ihre Schwester Naomi Balog. Der Stolperstein für Sprintza Podolanski in an diesem Donnerstag einer von 14 neuen in Leipzig. Damit gibt es in der Stadt seit diesem Tag nun mehr als 800 Stolpersteine.

Auch Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) ist zur feierlichen Verlegung in die Berliner Straße gekommen und hält ebenfalls eine Rede. Er lobt das Projekt und erzählt dann, dass im vergangenen Jahr Stolpersteine in Leipzig beschädigt oder gestohlen wurden. „Das ist nicht nur ein Angriff auf Steine, es ist auch ein Angriff auf die Opfer des Nationalsozialismus, auf ihr Andenken, auf all unsere Werte“, sagt Jung.

Diebstahl und Zerstörung

Wie viele Steine deutschlandweit beschädigt oder geklaut wurden, lässt sich schlecht beziffern. Im vergangenen Jahr sorgte zum 7. Oktober ein Fall in Zeitz für Aufmerksamkeit, als in einer Nacht alle zehn Steine der sachsen-anhaltischen Stadt geklaut wurden. Die Landesregierung Sachsen-Anhalt antwortete kurz danach auf eine Kleine Anfrage der Linken, im Bundesland seien 2024 insgesamt 18 Steine geklaut worden. In den Jahren zuvor hatte die Polizei lediglich einen Vorfall 2021 und einen 2022 registriert.

Wie viele es in der Zeit in Sachsen waren, konnte das Landeskriminalamt auf eine Anfrage der taz nicht beantworten. Das Bundeskriminalamt teilte mit, es könne für 2024 noch keine Auskunft erteilen. Aber in den drei Jahren zuvor habe die Polizei bundesweit je 20 bis 30 Sachbeschädigungen oder Diebstähle registriert. Auch in Zeitz wurden im Januar sechs der gerade neu verlegten Stolpersteine beschädigt.

In Leipzig wurden im vergangenen Dezember zwei Steine beschädigt. Mit einem spitzen Gegenstand wurden Löcher in die Messingplatte gehauen. Zwei weitere Steine wurden geklaut. Diese seien bereits ersetzt, sagt Achim Beier vom Archiv Bürgerbewegung, der seit gut 20 Jahren Stolperstein-Verlegungen in Leipzig organisiert. Doch die zwei beschädigten würden erstmal bleiben, wie sie sind: So wolle man sichtbar machen, welche Ablehnung es in der Gesellschaft gebe.

Der Künstler Gunter Demnig startete das Projekt der Stolpersteine 1992 mit einem Prototyp in Köln. Mittlerweile erinnern in 32 europäischen Länder insgesamt rund 112.000 Stolpersteine an die Opfer des Nationalsozialismus. Das sei zwar nur ein Bruchteil der Toten und Verfolgten, sagt der Künstler selbst dazu, aber immerhin symbolisch etwas. Eigentlich verlegt er die Steine selbst, doch durch einen Unfall verhindert, ist er an diesem Donnerstag nicht in Leipzig dabei.

Wie eine Beerdigung

Trotzdem fügen sich in allen Himmelsrichtungen der Stadt neue Stolpersteine ins Pflaster. Wie Irit Weisel ist auch Jonathan Simms wegen seiner Großmutter in Leipzig: Ilse Simonson, geborene Schreiber, wohnte gemeinsam mit ihren drei Brüdern in der Beethovenstraße in Leipzig. Als jüdische Familie wurden sie von den Nazis verfolgt. Nun liegen auch dort vier Stolpersteine, die an ihre Geschichten erinnern.

Den älteste der Brüder, Walter Schreiber, nahmen die Nazis 1938 in „Schutzhaft“, erst für einen Monat im Konzentrationslager Buchenwald, dann für mehrere Wochen im Gefängnis in Leipzig. 1940 starb er im Alter von 54 Jahren. 1943 deportierten die Nazis dann Ilse Simonson und ihren Bruder Albert Schreiber nach Theresienstadt und ermordeten beide ein Jahr später im Vernichtungsslager Auschwitz. Dem jüngsten Bruder, Hans Schreiber, gelang die Flucht in die Schweiz. Ebenso wie Ilse Simonsons Sohn Alfred, der 1939 nach England kam und dort seinen Nachnamen änderte.

„Simms“, das habe englisch geklungen, erklärt sein Sohn Jonathan Simms an diesem Donnerstag in Leipzig. Für die Steinverlegung ist er zum ersten Mal in der sächsischen Großstadt. Es sei für ihn so etwas wie eine Beerdigung, erzählt er auf englisch. Er wirkt dabei nicht traurig, eher gerührt. Mit einem Lächeln zeigt er auf die vier glänzenden Steine und sagt: Was ausgesehen habe, wie eine brutal unterdrückte Familie ohne Nachkommen, habe sich zu einer stetig wachsenden Familie entwickelt.

Blumen und Musik

Simms tritt einen Schritt zurück und zählt einen Namen nach dem anderen auf: den seiner Frau, seiner Schwester, deren Ehemann, dreier Kinder und zuletzt auch den des sechs Monate alten Enkels. Sie alle stehen in der Beethovenstraße, um der Stolpersteinverlegung beizuwohnen.

Nachdem die Steine im Boden sind, legen Angehörige und Be­su­che­r:in­nen Blumen ab. Auf einer Geige und einem Bandonion begleitet die Werkskappele Naunhof an allen 14 Orten die Verlegungen mit Klezmer, Folk- und Weltmusik. In der Berliner Straße sagt Irit Weisel, sie hoffe, dass Menschen die Inschrift lesen und an die Personen denken, die hinter den Namen stehen.

Für sie sei die Verlegung ein Ende gewesen und gleichzeitig ein Anfang. Was sie damit meint? „Wir gehen weiter, aber wir tragen die Erinnerungen mit uns“, sagt sie, „um etwas Neues zu gestalten“.

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