Gedanken zum demokratischen Arbeitskampf: Was darf ein Streik kosten?
Wer sich diese Frage stellt, ist den Streikgegnern bereits auf den Leim gegangen. Eine Wappnung gegen die anschwellende Propaganda gegen den Streik im Güterverkehr.
Was hat ein Witz von Jay Leno mit einem VW Passat gemeinsam? Wenig bis gar nichts, könnte man meinen. Und doch mehr als man denkt. Viel mehr.
Noch vor wenigen Wochen wäre man nicht im Traum darauf gekommen, irgendwelche Parallelen zwischen der TV-Unterhaltungsindustrie in den USA und der deutschen Automobilindustrie zu ziehen. Vor wenigen Wochen gab es aber auch noch keinerlei Berührungspunkte zwischen der Redaktion der "Tonight Show" und einem Konzern wie, beispielsweise, Volkswagen.
Das hat sich inzwischen so gründlich geändert, dass Moderator Jay Leno und VW-Manager Martin Winterkorn, durch Welten getrennt, doch in derselben Zwickmühle stecken. Denn wie die US-Late-Night-Show von der Produktion tagesaktueller Pointen lebt, so lebt der traditionsreiche Autobauer von der Produktion "just in time", um Lagerkosten zu drücken - und beide sehen sich nun an genau diesem neuralgischen Punkt durch Streiks kleiner Gewerkschaften empfindlich getroffen.
In Hollywood ist es der seit Samstag andauernde Ausstand der Autorengewerkschaft Writers Guild (12.000 Mitglieder), der die allabendliche Witzeflut zum Versiegen zu bringen droht - der letzte Streik dieser Art fand 1988 statt, dauerte 22 Wochen und kostete die Unterhaltungsindustrie geschätzte 500 Millionen Dollar. In Wolfsburg ist es der angekündigte Streik der Lokführergewerkschaft GDL (34.000 Mitglieder) im Güterverkehr, der für feuchte Hände sorgt.
Täglich rollen für den Volkswagen-Konzern 2.000 Bahnwaggons durch Deutschland, allein zwischen den verschiedenen VW-Werken gibt es 30 Zugverbindungen. Insgesamt werden laut Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) auf der Schiene Tag für Tag Waren im Wert von rund 240 Millionen Euro transportiert, mehr als 17 Prozent aller Güter überhaupt rattern auf Gleisen durchs Land. Wollte man die wieder auf die Straße verlagern, wären 10.000 zusätzliche Lkw nötig
Hatten die GDL-Streiks also im Nahverkehr bisher in erster Linie Pendler genervt, könnten die Ausfälle diesmal für Großkunden aus der Industrie richtig teuer werden - und damit, so wird gerne argumentiert, für uns alle, für Deutschland.
Wen solch Zahlengeklingel wenig beeindruckt, für den wird dann eben der ökobolschewistische Knüppel aus dem Sack geholt. So warnte etwa Roland Pörner vom Verband der Bahnindustrie: "Neben dem direkten wirtschaftlichen Schaden, der Deutschland durch den Totalausfall des Güterverkehrs entstünde, würde auch die Umwelt durch Rückverlagerung von Transporten auf die Straße stärker geschädigt werden", womit die perfide Kausalkette endlich ihre maximale Länge erreicht hätte: Der Streik einiger Aufsässiger schadet der Bahn, der Industrie, Deutschland, der Umwelt - und damit uns allen und unseren Kindeskindern bis ins dritte Glied obendrein.
Von hier ist es nur noch ein Katzensprung bis zur rhetorischen Frage: Was darf ein Streik kosten? Kann das nicht irgendwie unterbunden werden, von ganz oben, zum Wohl der Allgemeinheit? "So macht man sich keine Freunde", hat Wirtschaftsminister Michael Glos (CSU) bereits festgestellt - und meinte damit nicht den Bahnvorstand.
Der Stand der öffentlichen Diskussion erinnert derzeit verdächtig an die berüchtigte Mohawk-Valley-Formel, auf die der US-Stahlmagnat James Rand 1937 seine Tipps zur Streikbrechung gebracht hatte: "Besteht die Gefahr eines Streikes, brandmarke alle Gewerkschaftsführer als Unruhestifter, um sie und ihre Gefolgschaft in der Öffentlichkeit zu diskreditieren () Bilde eine gegen den Streik gerichtete zusammenhängende Gruppe aus einflussreichen Mitgliedern der Gemeinde, wenn praktikabel. Wähle hierfür bevorzugt Vertreter von Banken, Immobilienbesitzer, Geschäftsleute und Minister und bezeichne die Gruppe als Bürgerkomitee."
Man darf davon ausgehen, dass schon Ramses III. am 27.Oktober 1 155 v. Chr. beim ersten Streik der Weltgeschichte auf ähnliche Weise gegen seine Arbeiter vorgegangen ist - und sich am Ende doch der Macht des Faktischen beugen musste, Pharao hin oder her.
Ein Streik kostet eben, was er kostet - und dauert exakt so lange, bis ein Gericht das Ende verordnet oder die Streitparteien sich einigen. Das ist der demokratische Sinn eines jeden Arbeitskampfes, der mehr sein will als sozialromantische Folklore.
Ein Unterschied zwischen dem VW-Konzern und Jay Leno übrigens ist, dass Leno trotz streikender Witzeschreiber funktioniert: "Look how unfunny I am now?", klagte er: "Theyre not giving me anything."
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!