Gaza-Tagebuch: „Den Moment der Rückkehr ins Leben festhalten“
Die Menschen im Gazastreifen freuen sich über die Waffenruhe. Doch was werden sie bei Rückkehr in ihren Heimatregionen vorfinden?

A ls ich am Freitagmorgen aufwache, greife ich als Erstes nach meinem Handy. Ich scrolle schnell durch die vielen Schlagzeilen. Bis ich endlich die Nachricht finde, auf die ich gewartet hatte: Der Waffenstillstand in Gaza hat begonnen.
An diesem Freitagmorgen ist alles anders. Es ist ein Morgen voller Hoffnung und neuem Leben. Es ist, als ob die Sonne selbst nach langer Abwesenheit mit einem Lächeln über uns aufgehen wollte.
Ich sperre mein Handy und lege es beiseite. Ich atme tief ein. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühle ich wieder Erleichterung. Als hätte dieser Morgen all den Schmerz weggenommen, der mein Herz während der vergangenen beiden Jahre bedrückt hatte.
Allmählich wachen alle in unserem Camp auf. Die Atmosphäre ist von Frieden und Ruhe erfüllt. Die Menschen beginnen, sich gegenseitig zu gratulieren und lächel sich an, wie ich es seit Monaten nicht mehr gesehen habe. Wir machen einige Gruppenfotos, als wollten wir den Moment der Rückkehr ins Leben festhalten. Als bräuchten wir eine Bestätigung, dass wir trotz allem, was wir durchgemacht hatten, noch da sind.
Dieser Artikel wurde möglich durch die finanzielle Unterstützung des Recherchefonds Ausland e.V. Sie können den Recherchefonds durch eine Spende oder Mitgliedschaft fördern.
Bei unseren Zelt-Nachbarn läuft der Fernseher
Seit dem Morgen laufen auf dem Fernseher im Zelt unserer Nachbarn ununterbrochen Nachrichten über den Waffenstillstand. Die Neugierde überkommt mich. Seit zwei Jahren – mit Ausnahme der Pressekonferenz, bei der US-Präsident Donald Trump den Waffenruhe-Deal verkündete – habe ich keinen funktionierenden Fernseher mehr gesehen.
Doch Zeit zum Fernsehen bleibt mir nicht: Einige meiner Onkel und ihre Kinder – wir hatten stets versucht, als Familie zusammen zu bleiben – laden sich Taschen mit Wasser und Lebensmitteln auf den Rücken. Sie machen sich auf den Weg zum Netzarim-Checkpoint, in der Hoffnung, in den Norden Gazas zurückkehren zu können – zu ihren Häusern und Straßen, die sie vor Monaten verlassen hatten.
Auf den Straßen herrscht reges Treiben. Lastwägen voller lächelnder und winkender und rufender Menschen fahren an uns Menschen vorbei. Nach Norden, nach Norden.
Das Chaos auf den Straßen ist dieses Mal nicht voll von Angst, sondern von Freude, Glück und einem ersten Gefühl der Sicherheit nach langer Ungewissheit. Zum ersten Mal seit Monaten habe ich das Gefühl, dass der Krieg tatsächlich vorbei ist – wenn auch vielleicht nur vorübergehend. Und dass das Leben langsam wieder seinen gewohnten Gang nimmt.
Zurückkehren und vor dem Nichts stehen
Aber hinter der Freude verbirgt sich auch Schmerz: Viele der Rückkehrer sind schockiert von dem, was sie vorfinden. Die Häuser, die sie seit ihrer Kindheit kannten, sind nicht mehr dieselben. Einige sind vollständig verschwunden.
Ich kenne diesen Schock nur zu gut, denn ich habe ihn im Februar erlebt, als ich in meine Stadt Beit Lahia zurückkehrte und feststellte, dass sie fast vollständig ausgelöscht war. Ich wusste nicht mehr, wie ich zu meinem Haus kommen sollte. Die Straßen, die ich seit meiner Kindheit auswendig kannte, waren verschwunden. Und alles, was ich früher gesehen und berührt hatte, war nur noch eine Erinnerung.
Als ich endlich an den Ort unseres Zuhauses zurückkehrte, stellte ich fest, dass das Haus nicht mehr existierte. Mein Zimmer und mein Bett waren verschwunden, meine Nachbarn waren weg. Und sogar der schöne, alte Mandelbaum, den ich mein ganzes Leben lang geliebt hatte, war nicht mehr da. Ich fühlte damals eine tiefe Leere, eine Mischung aus Traurigkeit und Wut, aber auch die Entschlossenheit, weiterzumachen.
Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 startete das israelische Militär eine Offensive in Gaza, 2024 folgte der Vorstoß gegen die Hisbollah im Libanon. Der Konflikt um die Region Palästina begann Anfang des 20. Jahrhunderts.
An diesem Wochenende sind einer meiner Onkel und dessen Sohn nach Beit Lahia zurückgekehrt – trotz wiederholter Warnungen vor der Gefahr. Die Lage dort – ganz im Norden, nahe der Rückzugslinie des israelischen Militärs – ist immer noch instabil.
Wie wird es sein, zurückzukehren – ohne meinen Vater?
Ich bin noch im Süden des Gazastreifens. Und denke an das Grab meines Vaters. Ich möchte wissen, ob es noch da ist. Ich rufe meinen Cousin an, der auf dem Weg nach Beit Lahia ist, und frage ihn, ob er es aufsuchen könne. Er sagt: Noch könne man sich dem Friedhof nicht nähern, die Sicherheitslage sei zu instabil.
Ich sitze da und denke über meine eigene Rückkehr nach Beit Lahia nach: Wie würde es sein – ohne meinen Vater? Die Stadt, die er so sehr liebte. Als mein Vater im Februar mit uns dorthin zurückkehrte, war er glücklich, er tanzte und sang trotz der Zerstörung. Er schwor, sie nie wieder zu verlassen. Er hielt sein Versprechen. Doch dann starb er bei einem israelischen Angriff. Sein Blut nährt nun das Land, und die Erde hält seinen Körper in ewigem Schlaf.
Der Krieg mag noch nicht ganz vorbei sein. Doch momentan haben die Bombardierungen aufgehört. Das allein reicht schon aus, um ein wenig aufatmen zu können. Und wieder hoffen zu können, dass morgen alles besser sein wird. Dass Frieden möglich ist. Dass er kommen wird.
Seham Tantesh, 24, aus Beit Lahia, ist die Cousine unserer Reporterin Malak Tantesh und mittlerweile selbst Journalistin. Sie wurde insgesamt mindestens neunmal vertrieben; im Frühling 2025 wurde ihr Vater bei einem Luftangriff getötet.
Internationale Journalist*innen können seit Beginn des Kriegs nicht in den Gazastreifen reisen und von dort berichten. Im „Gaza-Tagebuch“ holen wir Stimmen von vor Ort ein.
Aus dem Englischen: Lisa Schneider
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert