Gastkommentar zur Radpolitik in Berlin: Wer haftet für die Toten?
Politiker sollten genausoviel Verantwortung für Unfälle im Straßenverkehr übernehmen wie die Chefs von Verkehrsunternehmen.
P olitik tötet Radfahrerin – so war die Einladung zu einer der Mahnwachen überschrieben, die der Volksentscheid Fahrrad im vergangenen Jahr in Gedenken an getötete Radfahrende abgehalten hat. Dazu gab es einen kleinen Aufschrei, ein paar kritische Artikel. Auch Grüne empörten sich, vielleicht weil sie kurz darauf das Verkehrsressort übernahmen.
Völlig klar ist, dass kein Politiker einen Radfahrer getötet hat, aber die Frage nach der politischen Verantwortung ist gestellt. Sie rüttelt an einem Tabu der deutschen Gesellschaft: einem stillschweigenden Konsens für das unbehelligte Weiter-(g)rasen der heiligen Kuh der Deutschen, dem Auto.
Der Volksentscheid Fahrrad lädt immer wieder zu solchen Mahnwachen ein, weil jeder Tod und die eigene Angst davor wieder vor Augen führt, warum sich das Engagement lohnt: Nach ein paar Schweigeminuten auf dem Asphalt ist wieder klar, warum wir uns für Sicherheit im Straßenverkehr einsetzen. Bis heute hat noch niemand aus dem politischen Bereich die Verantwortung für Verkehrstote übernehmen wollen, obwohl jeder Listenkandidat damit wirbt, politische Verantwortung tragen zu wollen.
Vielleicht lässt sich hier aus der Wirtschaft lernen, zum Beispiel aus den Organisations- und Unternehmerpflichten in der Verkehrswirtschaft. Der Staatsanwaltschaft ist es egal, ob der GmbH-Geschäftsführer eine schlecht funktionierende Mitarbeiterschar hat, ob er erst eine Woche oder viele Jahre Chef des Unternehmens ist, denn die Haftung, die Verantwortung fängt bei der Spitze an, ab dem ersten Tag.
Der Verantwortung entrinnen kann man nicht, jedoch für eine gute Organisation sorgen. Wenn es zu Unfällen kommt, prüft die Staatsanwaltschaft, ob es ein Organisationsverschulden gibt. Verfügt zum Beispiel der Eisenbahnbetriebsleiter über die nötigen Qualifikationen und wurde regelmäßig fortgebildet? Wurde ihm genügend Zeit eingeräumt, seiner Pflicht nachzukommen, hatte er jederzeit Vorspracherecht, erfolgten die Sicherheitsunterweisungen der Mitarbeiter? Das Gericht will auch wissen, ob seine Berichte und Hinweise zur Kenntnis genommen wurden und in angemessener Zeit Abhilfe geschafft wurde bis hin zur sofortigen Stilllegung von Zügen und Gleisen.
Nur wenn die Organisation stimmt, kann sich die Geschäftsführung auf das Durchführungsverschulden eines einzelnen Mitarbeiters berufen, der möglicherweise seinen Sorgfaltspflichten nicht nachkam.
48, ist Mastermind der Initiative Volksentscheid Fahrrad. Sie hatte 2016 rund 90.000 Unterschriften für mehr Verkehrssicherheit für Radler gesammelt und gehört zu den Verhandlungspartnern des Senats beim geplanten Radgesetz. Er selbst war mehrfach als Geschäftsführer von Verkehrsunternehmen tätig
Ansonsten liegt eben ein Organisationsverschulden vor. Die Geschäftsführung ist verantwortlich. Waren die Missstände in der Organisation bekannt, so wird aus fahrlässigem Verhalten sogar grob fahrlässiges bis hin zu vorsätzlichem Verhalten. Das Strafmaß steigt – zu Recht, denn Menschen haben sich dieser Organisation, diesem Geschäftsführer anvertraut.
Wenden wir dieses Konstrukt von Organisationspflichten auf Berlin an. Nehmen wir an, Berlin wäre eine GmbH, alle Auto- und Lkw-Fahrer sind angestellte Mitarbeiter und ein Senator der Geschäftsführer. Nehmen wir weiter an, einer dieser „Mitarbeiter“ hätte einen tödlichen Unfall verursacht.
Der Staatsanwalt würde nun nach den Organisationspflichten fragen. Er würde vermutlich zu der Einschätzung kommen, dass in Berlin ein Organisationsverschulden in mehreren Fällen vorliegt. Dass Präventionsstellen für Verkehrssicherheit seit mehr als einem halben Jahr nicht nachbesetzt sind, dass es in 10 von 12 Bezirken keine Radverkehrsplaner gibt, dass Unfälle sich an bekannten Stellen wiederholen und jahrelang nichts passiert, dass Zuständigkeiten hin und her geschoben werden, dass Abhilfe zu zögerlich und zu spät erfolgt, dass die Zahlen der Verletzten und Schwerverletzten steigen, dass letztes Jahr alle drei Wochen ein Radfahrer auf Berlins Asphalt starb.
Wäre es angesichts dessen nicht langsam an der Zeit, Ordnung in die organisierte Unverantwortlichkeit zu bringen? Und die Frage der inneren Sicherheit auch auf den Asphalt auszuweiten?
Wer ist bereit, politische Verantwortung zu übernehmen, wenn Menschen auf der Straße sterben? Der Bundesverkehrsminister, die Landesverkehrsminister-Konferenz, die Autobauer, der Regierende Bürgermeister, der seine Senatoren ernennt, der Verkehrs- oder Innensenator oder Bereichs- und Referatsleiter? Wessen Telefonnummer darf ich nennen, wenn mich die Angehörigen der überfahrenen und getöteten Radfahrerinnen und Radfahrer anrufen?
Laut Polizeistatistik sind 2016 insgesamt 17 Radfahrer in Berlin tödlich verunglückt – so viele wie seit zwölf Jahren nicht mehr. 2017 ist bisher ein Radler gestorben: Ein 80-Jähriger starb am Samstag, nachdem er an der Kreuzung Mehringdamm/Yorckstraße in Kreuzberg von einem rechtsabbiegenden Lastwagen erfasst worden war – ein typischer und häufiger Unfallverlauf.
Die Initiatoren des Volksentscheids Fahrrad haben die jüngsten Verkehrstoten zum Anlass genommen, am jeweiligen Unfallort eine Mahnwache abzuhalten. Der ADFC erinnert mit "Geisterrädern" an den Unfallstellen. Am heutigen Mittwoch werden 17 weiße Fahrräder für die Opfer von 2016 aufgestellt.
Laut ADFC zeichnen sich in den seit Mitte Februar laufenden Verhandlungen mit dem Senat zum Radverkehrsgesetz "langsam, aber sicher Fortschritte ab". Inzwischen stehe der Gesamtplan der Regelwerke für den Radverkehr, so der ADFC. (taz)
Tatsächlich tut sich etwas, erste Zeichen sind wahrzunehmen, dass die politische Verantwortung für Tote und Verletzte auf den Straßen ernster genommen wird. Wenn die neue Verkehrssenatorin zur Pressekonferenz der Vorstellung der Unfallbilanz des Vorjahres kommt, wenn dort ein 70-prozentiger Zuwachs an getöteten Radfahrern diskutiert wird. Wenn der Justizsenator erstmals zu einer Mahnwache kommt. Wenn Verkehrssicherheitspräventionsstellen endlich nachbesetzt werden sollen. Wenn der Staatssekretär der Senatsverwaltung für Inneres, Herr Gaebler, nach Bußgeldern von 100 Euro und mehr für Falschparker auf Radwegen ruft.
Fragen müssen wir nach der politischen Verantwortung weiter, denn noch sind wir am Anfang eines langen Weges. Noch lässt die Politik die heilige Kuh, das Auto, zu unbeaufsichtigt weiter (g)rasen.
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