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Gastkommentar zur Radpolitik in BerlinWer haftet für die Toten?

Politiker sollten genausoviel Verantwortung für Unfälle im Straßenverkehr übernehmen wie die Chefs von Verkehrsunternehmen.

Am heutigen Mittwoch muss der ADFC 17 von diesen Geisterrädern aufstellen – für jeden Radtoten in 2017 eines Foto: dpa

P olitik tötet Radfahrerin – so war die Einladung zu einer der Mahnwachen überschrieben, die der Volksentscheid Fahrrad im vergangenen Jahr in Gedenken an getötete Radfahrende abgehalten hat. Dazu gab es einen kleinen Aufschrei, ein paar kritische Artikel. Auch Grüne empörten sich, vielleicht weil sie kurz darauf das Verkehrsressort übernahmen.

Völlig klar ist, dass kein Politiker einen Radfahrer getötet hat, aber die Frage nach der politischen Verantwortung ist gestellt. Sie rüttelt an einem Tabu der deutschen Gesellschaft: einem stillschweigenden Konsens für das unbehelligte Weiter-­­(g)rasen der heiligen Kuh der Deutschen, dem Auto.

Der Volksentscheid Fahrrad lädt immer wieder zu solchen Mahnwachen ein, weil jeder Tod und die eigene Angst davor wieder vor Augen führt, warum sich das Engagement lohnt: Nach ein paar Schweigeminuten auf dem Asphalt ist wieder klar, warum wir uns für Sicherheit im Straßenverkehr einsetzen. Bis heute hat noch niemand aus dem politischen Bereich die Verantwortung für Verkehrstote übernehmen wollen, obwohl jeder Listenkandidat damit wirbt, politische Verantwortung tragen zu wollen.

Vielleicht lässt sich hier aus der Wirtschaft lernen, zum Beispiel aus den Organisations- und Unternehmerpflichten in der Verkehrswirtschaft. Der Staatsanwaltschaft ist es egal, ob der GmbH-Geschäftsführer eine schlecht funktionierende Mitarbeiterschar hat, ob er erst eine Woche oder viele Jahre Chef des Unternehmens ist, denn die Haftung, die Verantwortung fängt bei der Spitze an, ab dem ersten Tag.

Der Verantwortung entrinnen kann man nicht, jedoch für eine gute Organisation sorgen. Wenn es zu Unfällen kommt, prüft die Staatsanwaltschaft, ob es ein Organisationsverschulden gibt. Verfügt zum Beispiel der Eisenbahnbetriebsleiter über die nötigen Qualifikationen und wurde regelmäßig fortgebildet? Wurde ihm genügend Zeit eingeräumt, seiner Pflicht nachzukommen, hatte er jederzeit Vorspracherecht, erfolgten die Sicherheitsunterweisungen der Mitarbeiter? Das Gericht will auch wissen, ob seine Berichte und Hinweise zur Kenntnis genommen wurden und in angemessener Zeit Abhilfe geschafft wurde bis hin zur sofortigen Stilllegung von Zügen und Gleisen.

Nur wenn die Organisation stimmt, kann sich die Geschäftsführung auf das Durchführungsverschulden eines einzelnen Mitarbeiters berufen, der möglicherweise seinen Sorgfaltspflichten nicht nachkam.

Heinrich Strößenreuther

48, ist Mastermind der Initia­tive Volksentscheid Fahrrad. Sie hatte 2016 rund 90.000 Unterschriften für mehr Verkehrssicherheit für Radler gesammelt und gehört zu den Verhandlungspartnern des Senats beim geplanten Radgesetz. Er selbst war mehrfach als Geschäftsführer von Verkehrsunternehmen tätig

Ansonsten liegt eben ein Organisationsverschulden vor. Die Geschäftsführung ist verantwortlich. Waren die Missstände in der Organisation bekannt, so wird aus fahrlässigem Verhalten sogar grob fahrlässiges bis hin zu vorsätzlichem Verhalten. Das Strafmaß steigt – zu Recht, denn Menschen haben sich dieser Organisation, diesem Geschäftsführer anvertraut.

Wenden wir dieses Konstrukt von Organisationspflichten auf Berlin an. Nehmen wir an, Berlin wäre eine GmbH, alle Auto- und Lkw-Fahrer sind angestellte Mitarbeiter und ein Senator der Geschäftsführer. Nehmen wir weiter an, einer dieser „Mitarbeiter“ hätte einen tödlichen Unfall verursacht.

Der Staatsanwalt würde nun nach den Organisationspflichten fragen. Er würde vermutlich zu der Einschätzung kommen, dass in Berlin ein Organisationsverschulden in mehreren Fällen vorliegt. Dass Präventionsstellen für Verkehrssicherheit seit mehr als einem halben Jahr nicht nachbesetzt sind, dass es in 10 von 12 Bezirken keine Radverkehrsplaner gibt, dass Unfälle sich an bekannten Stellen wiederholen und jahrelang nichts passiert, dass Zuständigkeiten hin und her geschoben werden, dass Abhilfe zu zögerlich und zu spät erfolgt, dass die Zahlen der Verletzten und Schwerverletzten steigen, dass letztes Jahr alle drei Wochen ein Radfahrer auf Berlins Asphalt starb.

Wäre es angesichts dessen nicht langsam an der Zeit, Ordnung in die organisierte Unverantwortlichkeit zu bringen? Und die Frage der inneren Sicherheit auch auf den Asphalt auszuweiten?

Welches ist der richtige Weg für mehr Verkehrssicherheit? Foto: dpa

Wer ist bereit, politische Verantwortung zu übernehmen, wenn Menschen auf der Straße sterben? Der Bundesverkehrsminister, die Landesverkehrsminister-Konferenz, die Autobauer, der Regierende Bürgermeister, der seine Senatoren ernennt, der Verkehrs- oder Innensenator oder Bereichs- und Referatsleiter? Wessen Telefonnummer darf ich nennen, wenn mich die Angehörigen der überfahrenen und getöteten Radfahrerinnen und Radfahrer anrufen?

Getötete Radler in Berlin

Laut Polizeistatistik sind 2016 insgesamt 17 Radfahrer in Berlin tödlich verunglückt – so viele wie seit zwölf Jahren nicht mehr. 2017 ist bisher ein Radler gestorben: Ein 80-Jähriger starb am Samstag, nachdem er an der Kreuzung Mehringdamm/Yorckstraße in Kreuzberg von einem rechtsabbiegenden Lastwagen erfasst worden war – ein typischer und häufiger Unfallverlauf.

Die Initiatoren des Volksentscheids Fahrrad haben die jüngsten Verkehrstoten zum Anlass genommen, am jeweiligen Unfallort eine Mahnwache abzuhalten. Der ADFC erinnert mit "Geisterrädern" an den Unfallstellen. Am heutigen Mittwoch werden 17 weiße Fahrräder für die Opfer von 2016 aufgestellt.

Laut ADFC zeichnen sich in den seit Mitte Februar laufenden Verhandlungen mit dem Senat zum Radverkehrsgesetz "langsam, aber sicher Fortschritte ab". Inzwischen stehe der Gesamtplan der Regelwerke für den Radverkehr, so der ADFC. (taz)

Tatsächlich tut sich etwas, erste Zeichen sind wahrzunehmen, dass die politische Verantwortung für Tote und Verletzte auf den Straßen ernster genommen wird. Wenn die neue Verkehrssenatorin zur Pressekonferenz der Vorstellung der Unfallbilanz des Vorjahres kommt, wenn dort ein 70-prozentiger Zuwachs an getöteten Radfahrern diskutiert wird. Wenn der Justizsenator erstmals zu einer Mahnwache kommt. Wenn Verkehrssicherheitspräventionsstellen endlich nachbesetzt werden sollen. Wenn der Staatssekretär der Senatsverwaltung für Inneres, Herr Gaebler, nach Bußgeldern von 100 Euro und mehr für Falschparker auf Radwegen ruft.

Fragen müssen wir nach der politischen Verantwortung weiter, denn noch sind wir am Anfang eines langen Weges. Noch lässt die Politik die heilige Kuh, das Auto, zu unbeaufsichtigt weiter (g)rasen.

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7 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

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  • "Politik tötet Radfahrerin" ist definitiv in der Kaste der Fake-News anzusiedeln.

     

    Als multiemedaler Verkehrsteilnehmer sieht man jeden Tag Verkehrsverstöße aller in Frage kommenden Verkehrstgruppen. Im Falle eines Unfalles ist nur der Verursacher verantwortlich. Niemand anderes.

    • @DiMa:

      Hi Dima, das sehe ich anders. Wenn du schonmal in den Niederlanden warst, hast du bestimmt schonmal gesehen, wir toll und sicher das Fahrradfahren dort ist. Ich selber kann keine Fahrradwege bauen, die Politik ist hier verantwortlich. Nur sie kann Fahrradwege in Auftrag geben. Sie ist verantwortlich eine sichere Fahrradinfrastruktur aufzubauen. In den Niederlanden können Fahrradunfälle so gut wie nicht passieren. Das wei ich aus eigener erfahrung, sobald ich in Berlin aufs steige habe ich immer todesangst. Viele meiner Freunde fahren kein Fahrrad, weil sie Angst haben zu sterben. Für mich ist die Politik dafür verantwortlich.

      • @Fahr rad:

        Fahrradwege? Ernsthaft? Die machen doch das Radfahren besonders innerorts viel gefährlicher als einfach auf der Fahrbahn zu fahren. An den meisten Kreuzungen werden Radfahrer, die dem Radweg folgen, erst einmal aus dem Blickfeld abbiegender Kraftfahrer geführt, wenn Sie nicht ohnehin gänzlich hinter parkenden Fahrzeugen versteckt werden. Das Ergebnis kann man dann an der immensen Zahl von Abbiegeunfällen mit Radfahrerbeteiligung ablesen. Außerdem laufen ständig Fußgänger auf Radwegen rum, weil sie sie scheinbar für eine Erweiterung des Gehwegs halten.

        • @Peacewood:

          Ja ernsthaft. Ich kann deiner Aussage nicht zustimmen. Ich habe ungefähr 5 Jahre in den Niederlanden und 1 Jahr in Schweden gelebt und weißte was? Fahrradwege sind super und sicher. Ich habe in 6 Jahren von keinen Unfall gehört, auch nicht unter meinen Freundeskreis. Falls du schonmal in Dänemark, Schweden oder in den Niederlanden warst, dann wüsstest du, was für eine tolle Infrastruktur die haben, wo alle miteinander sich bewegen und nicht gegeneinander. Alles ist im Flux. Das ist keine Utopie, sondern Realität in diesen Ländern. Berlin ist leider noch eine kleine Entwicklungsstadt, wie ich sie nur von meinen Reisen in Asien kenne. Deswegen setze ich mich auch ein für eine Infrastruktur, die dem 21. Jahrhundert entspricht.

      • @Fahr rad:

        Für die Aussage "Politik tötet Radfahrerin" benötigt es entweder ein aktives Tun oder ein Unterlassen mit Garantenpflicht. Eine solche Garantenpflicht gibt es nicht.

         

        Ich wünsche mir auch eine Erste Klasse für die U-Bahn, damit der derzeit stets aufkommende Ekel auf der U7 ausbleibt. Dafür muss ich einfach nur die richtige Partei finden.

         

        Bis dahin tötet kein Politiker niemanden (ausgenommen natürlich dieser Schwachkopf von der Piratenpartei).

  • Ich als Radfahrer, der jedes Jahr gut 4000 km mit dem Rad im Innenstadtverkehr einer deutschen Großstadt unterwegs ist, kann überhaupt nicht verstehen, warum man im Zusammenhang mit Fahrradunfällen in erster Linie immer wieder auf das Rasen hinweisen muss. In der Realität wird man doch fast ausschließlich mit Verstößen und Gefährdungen ganz anderer Art konfrontiert.

     

    Selbst in Berlin ist unangepasste Geschwindigkeit so selten Ursache bei Unfällen mit Beteiligung von Radfahrern, dass der ADFC diese in seiner Unfallstatistik bis 2015 nicht einmal unter den Hauptunfallursachen aufführt. Trotzdem wird wahrscheinlich auch die Berliner Polizei 90 Prozent ihrer für Verkehrssicherheitsarbeit zur Verfügung stehenden personellen und zeitlichen Kapazitäten für Geschwindigkeitskontrollen aufwenden. Darüber hinausgehende Verkehrserziehung und -aufklärung bleibt dann natürlich auf der Strecke.

     

    Solange man sich also nicht den wirklichen Problemen, nämlich vorrangig der allgemeinen Beachtung von Vorfahrt und Vorrang widmet, und man nicht auch endlich dafür sorgt, dass Kraftfahrer grundsätzlich den Anforderungen des Großstadtverkehrs gewachsen sind, wird sich sicherlich nichts verbessern.