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Ganz weit vorn    ■ Von Christian Kortmann

Sie lernen es nie, die lieben Kinokassiererinnen. „Was? Vorne? Sie wollen vorne sitzen?“, schütteln sie den Kopf, wenn man eine Platzkarte für die vorderen Reihen verlangt. Äußert man keinen Wunsch, drücken sie einem ungefragt Karten für hinten links in die Hand. Dort tun sich noch zwei leere Plätze zwischen den Popcorn-Horden auf und dort soll man sich gefälligst hinsetzen, selbst wenn sich davor eine Prärie unbesiedelter Fauteuils bis zum Leinwandhorizont erstreckt. Nur ein Prinzip lenkt ihre Kinokassiererinnengedanken: „Hauptsache ganz hinten!“

Es ist ein Irrglaube, hinten im Lichtspielhaus befänden sich die besseren Plätze und die „Loge“ sei sogar einen 20-prozentigen Aufpreis wert. Gehen diese Kassiererinnen denn niemals selbst ins Kino und probieren die verschiedenen Perspektiven aus? Nein, in die Nähe der Leinwand kommen sie wahrscheinlich nur beim Eiskonfektverkauf. Ein befragter junger deutscher Regisseur weiß hingegen genau, was den Kinobesuch zum optischen Erlebnis macht: „Das habe ich in Amerika gelernt: Der ideale Platz ist dort, wo man geradeaus guckend gerade noch die Ränder der Leinwand im Sichtfeld hat.“

Genau hier beginnt das visuelle Abenteuer im Filmtheater: Man kann die Gesamtheit des Bühnengeschehens nicht mehr anstrengungslos überblicken, sondern lässt den Blick schweifen, mal zentriert, dann die Diagonalen entlangwandernd und Details in den Rändern erforschend. Wie im Museum nähert sich der Betrachter dem opulenten Gemälde, analysiert Komposition und Farbauftrag, doch hier werden ihm 24 Tableaux pro Sekunde präsentiert. Brad Pitts Krawatte pendelt in Schiffstauformat über die Leinwand, und Cameron Diaz' rechter Fuß ist aus nächster Nähe in 60 cm Größe erst recht bewundernswert. Es gibt Anzeichen dafür, dass Kinogänger, die nur einen Schwarzweißfernseher mit sehr kleiner (unter 35 cm) Bildschirmdiagonale besitzen, im Kino am weitesten vorne sitzen. Diese nüchternen „Tagesthemen“- und „Harald Schmidt Show“-Gucker wissen es eben besonders zu würdigen und auszukosten, wenn sie ihre monatlich nicht gezahlten GEZ-Gebühren für einen opulenten farbigen Augenschmaus über die Theke schieben. Ist die heimische Bildschirmdiagonale klein genug, wird man es früher oder später bis an die Spitze bringen: die 1. Reihe!

Es ist ein einsamer Weg hierhin, wenn man unbeirrt leere Reihe um leere Reihe nach vorn spaziert, und sich dann unter Publikumsgelächter in Mitte von Reihe 1 in den Sessel fallen lässt. Ein erster Triumph ist es immerhin, bequem die Beine auszustrecken, und Mutige wagen gleich einen Blick zurück über den eroberten Raum: Ganz vorne hat man dirigentengleich einen Orchestergraben leerer Bestuhlung zwischen sich und dem rückenlehnentretenden Chipsvolk, und die Luft ist selbst im Raucherkino unverbraucht. Früher verspottet als Auslöser von Genickstarre, erkennt man die 1. Reihe nun als den Ort der Grenzerfahrung zur filmischen Illusion und Sprungbrett in die Matrix der Spezialeffekte. Nichts stört zwischen Zuschauer und Bilderhimmel, die Stars sind zum Greifen nah: Das Bild ist nun so grob aufgelöst, dass man durch das Make-up ihre nackte Haut erblickt.

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