Ganz schön plastisch: „Das Gehirn ist nie fertig“
Verhaltens- und Denkmuster lassen sich noch im hohen Alter ändern, sagt der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther.
taz: Herr Hüther, wann ist das menschliche Gehirn fertig?
Gerald Hüther: Ich hoffe, nie. Das ist ja eine der schönen, Mut machenden Erkenntnisse aus der Neurobiologie: dass es möglich ist, bis ins hohe Alter neue Vernetzungen im Gehirn aufzubauen. Sogar Nervenzellen werden noch nachgebildet. Und damit besteht die Hoffnung, dass man bis ins hohe Alter die eingefahrenen Denkmuster verlassen und Neues lernen kann. Das nennt man Neuroplastizität.
Kennt die Wissenschaft die schon lange?
Man hat in den 1990ern erstmals festgestellt, dass auch Erwachsenenhirne neue Vernetzungen ausbilden – und zwar bei Menschen, denen man Extremitäten amputiert hatte. Da entstand zur Steuerung des verbleibenden Arms oder Beins ein Netzwerk im Hirn, das vorher nicht da war. Auch bei Erwachsenen, die etwas Neues lernten, fand man bald neue Vernetzungen. Selbst bei Senioren. Von da an war klar, dass das Gehirn bis ins hohe Alter neue Netzwerke bilden kann.
Eine späte Entdeckung.
Ich fürchte, dass Wissenschaft immer auch gesellschaftliche Bedürfnisse befriedigt. Und im vorigen Jahrhundert hatte man mehr Interesse daran, dass im Kopf alles fix und fertig ist. Man glaubte auch, dass unveränderliche genetische Prägungen unser Verhalten steuern. Diese Vorstellung war für die Besitzstandswahrergesellschaft des vorigen Jahrhunderts sehr attraktiv.
62, geboren im thüringischen Emleben, studierte und promovierte in Leipzig und Jena. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.
1979 floh er über das damalige Jugoslawien in den Westen. Von 1979 bis 1989 forschte er am Göttinger Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin über Hirnentwicklungsstörungen.
Seit 1988 Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Uni-Klinik in Göttingen, Leiter der dortigen Zentralstelle für Neurobiologische Präventionsforschung.
Befriedigen Ihre Erkenntnisse nicht auch ein gesellschaftliches Bedürfnis? Im alternden Westen dürfte es im allgemeinen Interesse sein, Senioren für lange lernfähig zu erklären.
Die Neuroplastizität bis ins hohe Alter passt durchaus in den Trend – nicht nur in Bezug auf die demografischen Veränderungen. Sie passt auch zu den neuen Anforderungen im Beruf. Auch dort werden inzwischen eher Menschen gesucht, die nicht ein Leben lang dasselbe tun. Und es passt in das, was wir in Schulen erwarten sollten: dass Kinder die Chance bekommen, ihre Talente zu entfalten.
Hat jedes Gehirn dasselbe Potenzial?
Theoretisch ist zumindest jeder fähig, Dinge zu entwickeln, die man ihm bislang nicht zutrauen würde. Das beeindruckendste Beispiel ist die Tatsache, dass inzwischen die ersten Kinder mit Trisomie 21 Abitur gemacht haben. Ob der Einzelne aber tatsächlich Potenzialentfalter wird, hängt von seinen Erfahrungen ab.
Inwiefern?
Kinder sind am Anfang des Lebens unglaublich offen und legen viel mehr neue Netzwerke im Gehirn an als jemals später. Wenn diese Entdeckerfreude in der Schule verschwindet, liegt das nicht am Hirn, sondern an dort gemachten ungünstigen Erfahrungen. Daraus entwickelt sich dann eine Haltung wie: „Mathe liegt mir nicht.“
Sie haben mal gesagt, dass sich Erfahrungen bis auf die genetische Ebene auswirken.
Wenn Sie eine Erfahrung machen, die Ihnen unter die Haut geht, werden im Hirn emotionale Zentren aktiviert. Die setzen Botenstoffe frei, die dazu führen, dass bislang ungenutzte genetische Sequenzen aktiviert und Eiweiße hergestellt werden, die für den Aufbau neuer Nervenzell-Verknüpfungen im Gehirn gebraucht werden.
Es gibt das Bild von der eingefahrenen Nerven-„Autobahn“ und dem „schmalen Pfad“.
Das Bild müsste man modifizieren. Es werden ja beim Baby im Gehirn viele winzige Straßen angelegt. Das heißt, zu Beginn der Hirnentwicklung werden Überangebote für Vernetzungen bereitgestellt. Manche Verknüpfungen werden oft genutzt, diese Bahnen werden dicker. Die anderen werden stillgelegt. Stabilisiert wird etwas vor allem dann, wenn der Betreffende sich über etwas, was er gelernt hat, besonders freut – etwa darüber, dass er ein Problem bewältigt hat.
Also Freude- statt Verhaltenstherapien, um Menschen zu ändern?
Ein Verhaltenstherapie reicht nicht, und die alleinige Arbeit mit der Emotion auch nicht. Das hat die Vergangenheit ja gezeigt: Da hat man versucht, das Verhalten von Menschen durch Belohnung und Bestrafung zu ändern. Also durch Ziehen und Drücken. Ich nenne es Dressur.
Was schlagen Sie vor?
Neuere Untersuchungen zeigen: Das Verhalten eines Menschen ist Ausdruck einer inneren Einstellung. Bisher hat man dies als Charakterzug betrachtet und gesagt, diese Persönlichkeit ist eben so. Jetzt wird klar: Unsere inneren Haltungen entstehen durch die Erfahrungen, die wir im Lauf des Lebens machen. Und bei jeder Erfahrung werden im Hirn zwei Netzwerke gleichzeitig aktiviert: ein kognitives und ein emotionales. Diese beiden Netzwerke verkoppeln sich, und wenn ein Mensch immer wieder dieselbe Erfahrung macht, verdichten sie sich, und es entsteht eine innere Haltung.
Wie lässt sich die verändern?
Das kann man nicht erzwingen. Man kann Menschen nur einladen, ermutigen und inspirieren, eine andere, günstigere Erfahrung machen zu wollen.
Ging es um neue Erfahrungen, als Sie mit Ende 20 aus der DDR flüchteten?
Ich bin 1979 mit einem selbst gefälschten Ausreisevisum nach Jugoslawien ausgereist. An diesem Vorhaben habe ich ein Jahr lang gearbeitet, habe gelernt, wie man Stempel fälscht. Der eigentliche Grund für den Entschluss war, dass ich zu den Menschen gehöre, die man nicht gut einsperren kann. Das mag mit meiner Kindheit zusammenhängen.
Inwiefern?
Ich bin auf dem Land in einer Wassermühle groß geworden – mit vielen Cousins und Cousinen – und habe erfahren, wie schön es ist, gemeinsam Dinge zu gestalten. Im Lauf von Schulzeit und Studium in der damaligen DDR sah ich dann, wie begrenzt die realen Möglichkeiten waren. So stand ich vor der Frage: Entweder du trittst in die Partei ein und machst dort mit – denn anders lässt sich nichts bewegen – oder du haust ab. In die Partei wollte ich auf keinen Fall.
Gab es einen Anlass?
Ja. Ich habe 1977 miterlebt, wie Freunde von mir als 27-jährige Assistenzärzte darüber entscheiden mussten, wer in Leipzig an die künstliche Niere kam – und wer starb. Es gab nur eine Dialyse, weil der Staat angeblich nicht genug Devisen hatte, um eine zweite zu kaufen. Er hatte aber genug Devisen, um ein großes internationales Jugendsportfestival zu organisieren.
Haben Sie irgendwen in Ihre Fluchtpläne eingeweiht?
Davon kann man niemandem etwas sagen, ohne ihn zu gefährden. Nach meiner Flucht sind meine Angehörigen ja von den DDR-Behörden verhört worden, und es war ein großes Glück, dass sie nichts wussten.
Haben Sie Ihre Eltern wiedergesehen?
Vier, fünf Jahre später. Die BRD gab der DDR Kredite, die an eine Amnestie für die Flüchtlinge gekoppelt waren. Nachdem man mir versichert hatte, dass ich rüberfahren kann, habe ich es getan. Mit zitternden Knien, aber es ist gut gegangen.
Inzwischen diskutieren Sie öffentlich mit dem Dalai Lama. Bestätigen die Neurowissenschaften buddhistische Erfahrungen?
Wenn eine Disziplin wie die Hirnforschung Entdeckungen macht, die Erfahrungen bestätigen, die Menschen schon vor 3.000 Jahren gesammelt haben, dann halte ich dieses Erfahrungswissen für etwas, das man sehr ernst nehmen sollte. Deshalb freue mich darüber, dass jetzt auch die moderne Wissenschaft nachweisen kann, was unsere Ahnen schon wussten. Ich bin sogar der Meinung, dass sich Wissenschaft nicht nur dadurch legitimiert, dass sie Neues findet. Es ist vielleicht auch Aufgabe von Forschern, etwas wiederzufinden, was wir verloren haben.
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