Fußballer Thuram über Diskriminierung: „Rassismus ist profitabel“
Der frühere französische Fußballnationalspieler Lilian Thuram erklärt, warum ein Perspektivenwechsel wichtig ist, um Rassismus besser zu verstehen.
taz: Herr Thuram, wann haben Sie begonnen, sich für das Konzept des „weißen Denkens“ zu interessieren?
Lilian Thuram: Das ist sehr kompliziert – ich würde sagen, dass es eigentlich meine Lebensgeschichte war, die mich dazu gebracht hat, Fragen über Rassismus zu stellen. Ich bin in Guadeloupe geboren, kam im Alter von neun Jahren nach Paris und in der dritten Klasse meiner Schule in Bois-Colombes gab es Kinder, die mich als dreckigen Schwarzen beschimpft haben.
Wie sind Sie damit umgegangen?
50 Jahre alt, ist mit 142 Einsätzen bis heute französischer Rekordnationalspieler. Mit dem Nationalteam wurde er 1998 Weltmeister und 2000 Europameister. Der Innenverteidiger begann seine Profikarriere beim AS Monaco und spielte für den AC Parma, Juventus Turin sowie den FC Barcelona. Im Jahre 2008 beendete Thuram seine sportliche Karriere und gründete die Stiftung Éducation contre le racisme, pour l’égalité (Erziehung gegen den Rassismus, für die Gleichheit). Sein Buch „La pensée blanche“ ist 2022 in der deutschen Übersetzung als „Das weiße Denken“, Verlag Edition Nautilus, erschienen.
Es hat mich verletzt; ich habe es nicht verstanden. Meine Mutter hat mir gesagt: „So ist es, die Leute sind rassistisch, das wird sich nicht ändern.“
Haben Sie als Neunjähriger etwas mit dem Begriff „rassistisch“ anfangen können?
Für mich hieß rassistisch, dass die Leute Schwarze nicht mögen. Und da meine Mutter es mir nicht weiter erklärt hat, habe ich versucht, die Dinge selbst zu verstehen. Ich habe Bücher gelesen, auch um zu versuchen, meine eigene Familiengeschichte zu verstehen. Als junger Erwachsener habe ich weitergelesen, traf Leute und verstand schließlich, dass Rassismus etwas Kulturelles ist und dass er eine unglaubliche historische Tiefe hat. Ich verstand, dass die Identitäten, die wir als Weiße oder Schwarze haben, mit der Rassifizierung der Welt zusammenhängen, bei der überlegene Rassen geschaffen wurden.
Wie kam es dazu, dass Sie selbst darüber ein Buch veröffentlicht haben?
Ich habe das Buch geschrieben, nachdem ich in der Nachbarschaft in einem Wartehäuschen eine Zeitschrift gesehen habe, auf deren ersten Seiten es um das „Schwarze Denken“ von verschiedenen Autoren ging. Ich dachte mir: „Warum reden wir nie über das weiße Denken?“ Und ich dachte, dass es interessant wäre, die Art zu ändern, wie Rassismus wahrgenommen wird: nämlich die weiße Kategorie zu hinterfragen, die unbewusst oder bewusst vom Rassismus profitiert. So habe ich das, was in der dritten Klasse passiert war, noch einmal durchgespielt und gesagt: Wenn ich schwarz geworden bin, wann sind diese Kinder, die mich beleidigt haben, weiß geworden?
An wen richtet sich das Buch – an diejenigen, die, wie Sie es schreiben, die weiße Maske tragen und sich dessen nicht bewusst sind?
Es richtet sich eigentlich an den kleinen Jungen, der ich war. Für mich wäre es interessant, wenn die kleinen Jungen, die mich als dreckigen Schwarzen beschimpft haben, dieses Buch vor dem Treffen gelesen hätten. Ich glaube, dass es dann keine Beleidigungen gegeben hätte, weil die Kinder die weiße Maske zurückgewiesen hätten. Und ich hätte die schwarze Maske nicht getragen. Man muss versuchen, wirklich zu verstehen, dass der Rassismus eine sehr, sehr, sehr lange Geschichte hat und dass das, was heute geschieht, mit einer Vergangenheit verbunden ist, die uns sehr nahe ist.
Wer profitiert vor allem von der weißen Maske?
Was für mich sehr interessant war, ist, dass Rassismus von Anfang an eine ökonomisch motivierte Propaganda ist, um Gewalt zu legitimieren. Sobald man vom Sklavenhandel spricht, von der Kolonialisierung, spricht man hinter all dem vom Willen einer Minderheit, sich durch die Aneignung von Körpern und Land zu bereichern. Aber dafür musste sie einen Diskurs erfinden, um einen Konsens zu schaffen, dass es normal ist, das zu denken: Eigentlich sind es keine Menschen wie wir.
Was macht Sie optimistisch, dass diejenigen, die heute vom Rassismus profitieren, bereit sind, darauf zu verzichten?
Weil ich ein Mann bin. Ich weiß also, dass Männer in der Gesellschaft im Vorteil sind. Das bedeutet, dass ich als Mann daran arbeiten kann, mir bewusst zu werden, dass es tatsächlich Sexismus gibt, dass ich selbst Sexismus produzieren kann. Dass ich bereit bin, meine Söhne so zu erziehen, dass sie sich dessen bewusst werden. Das bedeutet, dass die Menschen, die von Rassismus profitieren, ohne es zu wollen, die gleiche Arbeit tun können. Und ich glaube, dass es tatsächlich immer mehr Menschen gibt, die das tun, weil sie verstanden haben, dass der Kampf gegen den Rassismus auch ein Kampf gegen die wirtschaftliche Gewalt in der Welt ist.
Gleichzeitig zeigen Sie sich in Ihrem Buch pessimistisch, weil die Bedingungen für Veränderung immer schlechter würden.
Wir befinden uns im Wirtschaftsliberalismus, jeder muss für sich selbst sorgen. Das macht mir Angst. Denn wenn man Rassismus bekämpfen will, Sexismus, Homophobie, dann muss man den Willen zur Gleichheit, zum Miteinander, zur Solidarität haben. Und ich habe den Eindruck, dass wir uns heute auf eine Welt zubewegen, die immer weniger solidarisch ist; alles, was mit der Umverteilung von Reichtum zu tun hat, ist immer weniger akzeptabel.
In Deutschland gibt es nicht die Figur eines Sportlers, der auch Intellektueller ist. Sind Sie in Frankreich eine Ausnahme?
Ich habe nicht das Gefühl, dass die Leute mich als Intellektuellen wahrnehmen. Was bedeutet es überhaupt, ein Intellektueller zu sein?
Jemand zu sein, der sich in öffentliche Diskurse einmischt, würde ich sagen, der sich nicht nur als Privatperson versteht.
Leider wird den Sportlern suggeriert, dass sie sich nicht für Politik interessieren sollen, sie sollen einfach nur Fußball spielen. Aber ich möchte sagen, dass Fußball politisch ist, und deshalb fordere ich die Fußballspieler auf, das Wort zu ergreifen und bestimmte Dinge anzuprangern. Und im Übrigen glaube ich, dass die Politiker im Allgemeinen Angst vor den Worten der Sportler haben, weil sie wissen, dass sie eine sehr große Zahl von Menschen erreichen können.
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