Fünf Jahre nach Bataclan-Anschlag: Wunden, die nicht heilen wollen
Tausende versuchen bis heute, einen Umgang mit dem Trauma zu finden. Präsident Emmanuel Macron will härter gegen Gefährder durchgreifen
Im Januar soll ein Prozess gegen 20 Angeklagte beginnen. Das ist besonders wichtig für die Überlebenden, denn in Frankreich sind es Tausende, die als Opfer der Terroranschläge der letzten Jahre mit ihren traumatischen Erlebnissen umgehen müssen. Ein großer Teil von ihnen hat Angehörige oder Freunde verloren, viele wurden verletzt und müssen mit Behinderungen oder psychischen Folgen leben.
„Mein Leben wurde in kleine Stücke gerissen“, erinnert sich der Gastwirt Grégory Reibenberg in einem Gespräch mit dem Magazin Elle. „Um dem standzuhalten, musste ich aktiv sein und etwas tun. Für meine Tochter Tess, die beim Attentat ihre Mutter verloren hat, für mein Team und für mich selbst.“
Reibenberg saß am 13. November 2015 zusammen mit seiner Lebensgefährtin und seinem Geschäftspartner auf der Terrasse seines Restaurants La Belle Équipe, als ein Terrorist das Feuer eröffnete, bevor wenig später zwei andere Fanatiker im Konzertsaal Le Bataclan, wo die Gruppe Eagles of Death Metal auftrat, ein fürchterliches Blutbad anrichteten. Er und sein Geschäftspartner haben den Anschlag überlebt, doch die Erlebnisse bleiben präsent. „Ich fühle mich heute als Überlebender, weniger als Opfer“, sagt sein Partner. Vergessen kann er nicht, verdrängen vielleicht.
„In der Seele verletzt“
Der Bankier Arthur Dénouveaux war damals im Bataclan, überlebte, fühlt sich aber heute „in der Seele verletzt“. Zusammen mit anderen hat er die Hilfsorganisation Life for Paris gegründet, deren Zweck es ist, den Terroropfern psychologische Unterstützung und Hilfe bei Gesuchen um Entschädigung durch den staatlichen Fonds für die Opfer des Terrorismus zu gewähren. Wie Reibenberg spricht er davon, dass ihm diese geschäftige Aktivität hilft. Mit dem Geld, das er selbst vom Fonds erhalten hat, hat er in ein Musiklabel investiert, das er nach dem Notausgang im Bataclan benannt hat, der sein Fluchtweg war: Left Front Door Records.
Der bekannte französische Psychiater Boris Cyrulnik hat dazu das Konzept der Resilienz als Bewältigungsstrategie entwickelt, das in Frankreich oft im Zusammenhang mit den Überlebenden der Attentate zitiert wird. „Der Begriff Opfer ist zu juristisch und verfestigend. Diese Menschen sind keine Kranken, es geht nicht um Heilung. Die Resilienz ermöglicht es ihnen, nicht von der Vergangenheit beherrscht zu bleiben, sondern eine neue Form der Existenz zu wählen“, beschreibt Cyrulnik seine Theorie.
Dominique Szepielak, Psychologe der Hilfsorganisation Association française des victimes du terrorisme, äußert seine Bewunderung für diese Menschen, die gestärkt aus ihrer schlimmsten Erfahrung hervorgehen: „Die überwiegende Mehrheit besinnt sich (…) auf die eigenen Werte und lehnt den Teufelskreis von Gewalt und Leiden ab.“ Auch die französische Gesellschaft hat bisher eher mit Solidarität auf Basis gemeinsamer Werte als mit Ressentiments reagiert.
Natürlich haben die Terrorattacken in Frankreich zu einer verstärkten Überwachung von radikalen Islamisten geführt. Dazu wurden Ausnahmebestimmungen des 2015 dekretierten Notstands in die Gesetzgebung übernommen. Nach den jüngsten Anschlägen in Paris, Conflans-Sainte-Honorine und Nizza möchte der Innenminister rund 50 Vereinigungen verbieten und Moscheen, wo Hassprediger auftreten, schließen. Rund 230 bei den Behörden wegen ihrer Kontakte zu Islamisten registrierte Ausländer sollen in ihre Herkunftsländer abgeschoben werden. Präsident Emmanuel Macron möchte auch die EU-Partner zu einem gemeinsamen und härteren Vorgehen einspannen. Die Republik will nicht den Eindruck erwecken, auf die Bedrohung mit Naivität zu reagieren.
Anschläge hinterließen Spuren im Verhalten der Pariser
Die Anschläge, die schlagartig in den Alltag eingebrochen sind, haben vor allem im Verhalten der Pariser Spuren hinterlassen. Viele meiden Ansammlungen, schauen sich beim Besteigen der Metro um oder halten nach verdächtigen Objekten Ausschau. Der Angriff auf die Redaktion von Charlie Hebdo und die Attentatsserie vor fünf Jahren haben aber auch den Überraschungseffekt vermindert. Wenn täglich in den Straßen Polizisten und Soldaten patrouillieren, wird vielen Parisern bewusst, dass jeden Tag mit einem Attentat gerechnet werden muss.
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