Frühlingsanfang in Kriegszeiten: Krieg und Frühling
Es ist Krieg, aber dem Frühling ist egal, was die Menschen einander stehlen. Und wir halten mit schlechtem Gewissen unsere Gesichter in die Sonne.
Es wird immer Frühling. Immer. Mit Krokussen, die dort wachsen, wo es ihnen gefällt, eigenwillig absichtslos. Mit Gesichtern, die bei 12 Grad mit dem Auftauen beginnen, denen die Wintermonatsmaske wegschmilzt, ausgeliefert, kurzzeitig sorglos.
Mit Tagen, an denen man in der Daunenjacke schwitzt und im nächsten Moment bereut, die Mütze zu Hause liegen gelassen zu haben. Mit dem ersten Pistazieneis des Jahres und der Möglichkeit von Schnee im späten März. Der Frühling ist zurück und der Zustand der Welt ist ihm egal, selbst der Krieg kümmert ihn nicht, Frühling wird immer, schön und rücksichtslos.
In Kiew liegen am 15. März Blumen zwischen Scherben auf dem Boden. Draußen fallen Bomben auf Häuser. Anderswo stehen am 15. März Blumen zwischen Frühstücksbrettchen auf dem Tisch. Draußen fällt Licht auf Kopfsteinpflaster.
Der Frühling ist so verlässlich schön, dass es weh tut, seine Luft ist so süß, dass es schmerzt. Wie kann er nur? Und du, dazwischen, du willst ihn riechen und schmecken und du willst deine kalten Hände in seinen Ärmeln vergraben. Du schließt die Augen. Du lächelst. Wie kannst du nur?
Nun, du kannst nicht, sondern du musst. Denn was einen Menschen schert, das berührt den Frühling nicht. Er zwingt dich zum Atmen und zum Glück, Serotonin, Vitamin D, selbst dann wenn: jemand stirbt im Frühling, jemand schreit im Frühling, dann sagt trotzdem jemand im Frühling: „aber die Sonne tut echt gut“, und das ist wahr. Die Tage werden wieder länger, ob du sie nun fürchtest oder nicht. Der Frühling hat kein Gewissen. Ein Mensch hingegen hat ein schlechtes, und er muss das ertragen, heute, gestern, neulich, erneut.
In letzter Zeit steht der Mond auch tags am Himmel, stur, als weigerte er sich auch noch unterzugehen. Hier ist Tag und Nacht, da ist Krieg und Frühling. Alles blüht und alles brennt. Die Nachrichten, die Herren-Bundesligatabelle, die Lottozahlen, das Wetter. Syrien, Afghanistan, Jemen, Ukraine. Würdest du sagen, das war schon immer so, doch erst jetzt kann man kaum noch wegsehen?
Dem Frühling ist egal, was wir einander stehlen, er folgt nur seinen eigenen Regeln. Wie ignorant das ist, wie dreist, wie gut. Denn Glück ist doch Mangelware. Im Film müsste es jetzt ständig dunkel sein, ein kühler Filter läge vor allen Bildern. Aber in Wirklichkeit taucht der Frühling auch die hässlichste Aussicht in Gold. Fuck you, Frühling, wie kannst du nur? Aber bitte bleib.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“