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Freisprüche im Gezi-ProzessZu schön, um wahr zu sein

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Hätten die Richter Zweifel an Kavalas Schuld gehabt, hätten sie ihn längst aus der Haft entlassen können. Die Direktive zum Urteil kam wohl von ganz oben.

Jubel nach den Freisprüchen im Gezi-Prozess Foto: Umit Bektas/reuters

W ann hat es in den vergangenen Jahren eine solche Nachricht aus der Türkei gegeben: Freisprüche im Gezi-Prozess. Nicht in einigen Fällen, nicht bei einigen der Beschuldigungen, sondern komplett, für alle Angeklagten und in allen Anklagepunkten. Und das, nachdem der Hauptangeklagte Osman Kavala mehr als zwei Jahre völlig unschuldig in Untersuchungshaft gesessen hat und der Staatsanwalt gegen ihn und zwei weitere Angeklagte gerade noch lebenslange erschwerte Haft gefordert hatte.

Die Diskrepanz zwischen der Vorgeschichte, dem bisherigen Verhalten des Gerichts und der Strafforderungen der Staatsanwälte zu den jetzigen Freisprüchen ist so groß, dass man nicht glauben kann, das diese Entscheidung von der angeblich so unabhängigen Justiz in der Türkei selbstständig getroffen wurde. Wenn die Richter Zweifel an der Schuld von Osman Kavala gehabt hätten, hätten sie ihn schon lange vorher aus der U-Haft entlassen müssen.

Nein, diese Entscheidung, die da am Dienstagmittag im Gerichtssaal im Hochsicherheitsgefängnis in Silivri verkündet wurde, muss wo anders gefällt worden sein. Ohne Direktive von oben hätte es sie nicht gegeben. Und Direktiven dieser Tragweite gibt in der Türkei eigentlich nur noch ein Person: der Staatspräsident selbst. Warum aber Erdoğan den Mann, der ihn angeblich fast durch eine Verschwörung gestürzt hat, jetzt freisprechen lässt, ist schwer nachzuvollziehen.

Zwar wächst der innen- und außenpolitische Druck auf den Präsidenten, dennoch hätte bis Dienstag niemand eine solche Entscheidung für möglich gehalten. Nach der türkischen Opposition am meisten begrüßt wird die Freilassung sicher in Europa. Weniger Repression gegen Andersdenkende in der Türkei würde einen Neuanfang erleichtern. Ob das aber der Grund ist? Es wäre zu schön, um wahr zu sein, denn dann müssten jetzt weitere Schritte in diese Richtung folgen. Eine echte Justizreform die den Richtern ihre Unabhängigkeit zurückgibt und eine Medienpolitik, die Meinungsfreiheit tatsächlich zulässt, statt sie nur zu behaupten. Wie gesagt, zu schön, um wahr zu sein.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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2 Kommentare

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  • "Ohne Direktive von oben" hätte es diesen Freispruch nicht gegeben. Anscheinend hat es inzwischen eine neue "Direktive von oben" gegeben, denn unmittelbar nach dem Freispruch wurde ein neuer Haftbefehl erlassen. Jetzt wirft man ihm Beteiligung am "Putsch" von 2016 vor. Mir stellt sich die Frage: Wie krank oder kaputt muss Erdogans Justizsystem sein?

  • So weit ich weiß, sitzen noch über 100 JournalistInnen in türk. Gefängnissen, von den vielen Lehrern, Professoren, Angestellten etc. ganz abgesehen. Fast zeitgleich wurden heute wieder über 100 angebliche Gülen AnhängerInnen (unter unwürdigen Umständen) festgenommen. Man kann darüber spekulieren, warum die Direktive 'von ganz oben' kam ... Dem letzten Satz von J. Gottschlich kann ich nur zustimmen.