Freispruch gefordert für Seenotretter: Staatsanwälte gegen Regierungskurs
Die Staatsanwaltschaft fordert Freispruch für die Crew der Iuventa, die 14.000 Menschen gerettet hat. Im rechten Italien keine Selbstverständlichkeit.
S ieben Jahre voller Ungewissheit, erschwerter Zukunftsplanung und Angst vor Jahrzehnten im Knast. Dazu unzählige Stunden der Prozessvorbereitung, der Reisen, des Geldsammelns für Anwält:innen – das hat die Seenotretter:innen der Iuventa das Verfahren der italienischen Justiz gegen sie schon heute gekostet.
Angeblich hatten sie „in krimineller Absicht (…) Ausländer zum Zweck der illegalen Einreise transportiert“. Schon früh war klar, dass die Vorwürfe konstruiert waren und vor allem dazu dienten, einzuschüchtern und anderen die Lust zu nehmen, sich für die NGO-Schiffe als Freiwillige zu melden. Dass in den Ermittlungsakten über 100 Mal ein Ex-Polizist als einer der Hauptzeugen genannt wird, dessen Security-Firma Kontakte zum Anführer der Identitären Bewegung Italiens hatte und der die Rettungs-NGOs als eine Art Privatspion für den Lega-Chef Matteo Salvini ausforschte, ist da nur eine Facette der Geschichte.
Nun ist also auch die Staatsanwaltschaft der Meinung, dass die Zeugen „unglaubwürdig“ seien und dass „kein Verbrechen“ begangen wurde. Sie beantragte am Mittwoch überraschend einen Freispruch.
Dass sie angesichts der Faktenlage nicht länger auf einer Bestrafung beharrt, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Das ist es aber nicht. Denn im Kampf gegen die irreguläre Migration ist das Recht in Europa zuletzt sehr dehnbar geworden. Die Justiz verfolgt Flüchtende und Helfer:innen in mehreren Ländern teils mit konstruierten Vorwürfen oder völlig überzogenen Strafanträgen. Die Kriminalisierung von Migration und Solidarität ist ein Element der Abschottungspolitik geworden.
In Italien hatten Richter:innen, die nicht bereit waren, dabei mitzumachen, mit Anfeindungen zu kämpfen. In Großbritannien denkt die konservative Regierungspartei laut darüber nach, Urteile zu ignorieren, die ihren Ruanda-Deal durchkreuzen. In Polen hatte die Regierung geradezu stolz verkündet, sich nicht an Urteile des Gerichts der Europäischen Union zu ihrem Umgang mit Geflüchteten an der Grenze zu Belarus zu halten.
Der Strafantrag gegen die Iuventa-Crew hätte früher fallen gelassen werden müssen. Die Lebenszeit, die die Angeklagten das Ganze gekostet hat, kriegen sie nicht zurück, und ob der Richter dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgt, ist nicht gewiss.
Aber die Bereitschaft der Staatsanwaltschaft, in diesem bisher größten Verfahren gegen Flüchtlingshelfer:innen in Europa unter einer offen rechtsextremen Regierung nicht aus politischen Gründen eine Strafe zu fordern, wo kein Verbrechen begangen wurde, ist ein ermutigendes Zeichen. Es zeigt, dass es sich auch unter so schwierigen Bedingungen lohnt, sich nicht einschüchtern zu lassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs