Freiräume auf Flachdächern: Aufs Dach gestiegen
Das Berliner Projekt „Operation Himmelblick“ will Dächer als Freiräume für die Nachbarschaft erschließen. Die Idee könnte Vorbildcharakter haben.
Doch auch in diesen Freiräumen bahnt sich das Kapital seinen Weg: Angesichts steigender Bodenpreise lohnt sich immer häufiger die kommerzielle Nutzung von Dächern. Hausbesitzer*innen haben längst begonnen, Dachgeschosse auszubauen, Penthouses auf Flachdächer zu setzen oder betonwüstige Parkhausdecks in kommerzielle und instagramtaugliche Dachgärten für Aperol-Spritz-Publikum umzuwandeln.
Ein Berliner Projekt hat sich entschlossen, dem etwas entgegenzusetzen. Das stadtpolitische Kollektiv Stadtgewitter e. V. hat die „Operation Himmelblick“ gestartet. Mit dem Konzept nichtkommerzieller Dachnutzungen haben in dem Verein organisierte Künstler*innen von der Universität der Künste UdK und der Kunsthochschule Weißensee sowie Architekt*innen aus dem Urbanistikbereich eine Förderung über 50.000 Euro vom Senat bekommen und sich viele Gedanken gemacht über Dachflächen in der nachverdichteten Stadt. Seit anderthalb Jahren arbeiten sie dafür, ein Nutzungskonzept für Dächer von Plattenbauten zu erarbeiten, wie es sie in Berlin Zehntausende gibt.
Ein erster Versuchsballon für einen solchen Nachbarschaftsdachgarten startet nun in der Leipziger Straße in Mitte – auf einem Plattenbau mit 180 Wohnungen unweit vom Alexanderplatz. Letzte Statikprüfungen und Baugenehmigungen stehen zwar noch aus, einen Vorgeschmack gibt es schon: Die Künstler*innengruppe hat ein begehbares Modell im Innenhof des riesigen Gebäudekomplexes installiert, das verdeutlichen soll, wie die Nutzung des Daches aussehen könnte.
Hochbeete, Teeküche, ökologisches Begrünungskonzept
Der Boden dieser kleinen Aussichtsplattform besteht aus Holzpolygonen, die sich modular und flexibel zusammenschrauben lassen, wie die Künstlerin Zora Hünermann vor Ort interessierten Nachbar*innen erklärt, die vor Kurzem zu einer Konzeptvorstellung des Projekts gekommen sind. Aus den Aufbauten in organischen Formen könnten etwa Hochbeete, Sitzpodeste oder Liegeflächen entstehen, ebenso finden sich in den Entwürfen eine zentrale Teeküche und ein kleiner Pavillon.
Es sei allerdings alles variabel: Die Polygone seien „eine flexible Möglichkeit, Fläche zu erschließen“, sagt Hünermann. Auseinandergeschraubt passen die Elemente in einen Fahrstuhl, man brauche also keine Baustelle, um solche Plattformen auf dem Dach zu errichten.
Wie genau die Plattform später auf dem Dach ausgestaltet wird, soll im Austausch mit der Nachbarschaft geplant werden. Dass dabei ein bereits vorhandenes ökologisches Begrünungskonzept zum Tragen kommen soll, versteht sich von selbst. Auf der Plattform hängen bunte Entwürfe, die zusammen mit dem begehbaren Modell für eine recht konkrete Vorstellung sorgen.
Jakob Wirth, einer der Initiator*innen des Projekts, sagt der taz: „Unsere Kernfrage war: Wie ist es möglich, dass Bewohner*innen die letzten ungenutzten Flächen der Stadt zugänglich gemacht werden können?“ Noch seien Dachflächen in Berlin ökonomisch nicht stark verwertet, deswegen sei es noch möglich, diese gemeinwohlorientiert zu nutzen. Aus der Idee soll ein Pilotprojekt werden – im besten Falle mit dem Ergebnis, dass Dachnutzung für die Nachbarschaft möglich wird.
„Die Umkehrung der Penthouse-Logik“
„Wir wollen die Forderung aufstellen: Die Dächer denen, die drunter wohnen!“, sagt Wirth, „es soll keine hippe Rooftop-Bar mit Konsumzwang entstehen, sondern ein Freiraum auch für Menschen, die mit oder ohne Wohnberechtigungsschein hier wohnen. Wir wollen privilegierte Räume für Nicht-Privilegierte nutzbar machen – die Umkehrung der Penthouse-Logik.“
Bei allen schönen Visionen gibt es allerdings auch Fallstricke: „Der französische Architekt Le Corbusier hat in den Sechzigern in Marseille schon mal ein ähnliches Projekt für gemeinschaftliche Dachnutzung in Sozialbauten gemacht. Aber die Dachnutzung scheiterte letztlich, weil dort Angsträume entstanden sind und es verwahrloste – bis die Dächer irgendwann wieder geschlossen wurden“, so Wirth.
Um das in der Gegenwart zu verhindern, sei ein „Community Building-Prozess“ in der Nachbarschaft wichtig, wie Wirth sagt – die Nachbarschaft müsse die Verantwortung für ihr Dach übernehmen und kollektiv regeln, wie die Nutzung aussehen soll. Für die Öffentlichkeit soll das Dach zunächst nur punktuell zugänglich sein.
Das Stadtgewitter-Kollektiv will sich in anderthalb Jahren so „überflüssig machen“ und einer selbst organisierten Hausgemeinschaft ein selbst verwaltetes Dach überlassen. Letztlich sei der Plan, dass das Projekt ein Modellprojekt werde, das mit modularer Bauweise und günstigen Mitteln auf viele Häuserdächer passe. Damit das klappt, muss die Nachbarschaft mitmachen, sagt Wirth. Zur Vernetzung organisiert das Kollektiv kleine Konzerte, Veranstaltungen und Plattform-Dinner für alle Nachbar*innen, ebenso gab es bereits eine kleine Feier zur Einweihung.
Zu der vor Kurzem vermutlich für viele eher drögen Konzeptvorstellung sind nicht viele gekommen. Aber doch diejenigen, die Multiplikatoren in ihrer Hausgemeinschaft sind: So sind zwei Frauen vom bereits im Haus vorhandenen Mieterbeirat da. Sie finden die Idee prima und wollen die Informationen in ihre Kreise weitergeben. Auch ein Rentner-Ehepaar ist gekommen und wirkt begeistert. Ein anderer älterer Herr meldet sich nach einer Weile und sagt: „Ihr macht das alles ganz prima, lasst euch bloß nicht zu viel reinreden. Irgendwer hat schließlich immer was zu meckern!“
Dass es angesichts vieler Plattenbauten in Berlin viele nutzbare Dächer geben müsste, ist unstrittig. Wie viele es genau sind, kann die Verwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen auf Nachfrage nicht sagen.
Eine Idee auch für andere Plattenbauen?
Wirth ist sich allerdings sicher, dass auf Berlins Flachdächern viel zu holen ist: In stadtpolitischen Initiativen, die sich europaweit mit dem Thema beschäftigen, werde die Zahl der Dachflächen für Mitteleuropa im Durchschnitt auf 15 bis 30 Prozent der Stadtfläche beziffert – in Berlin mit weiträumiger Bebauung dürfte dieser Wert allerdings eher am unteren Ende liegen. In der Regel seien rund zwei Prozent der Dächer nutzbar, schätzt Wirth. Für das Dach in der Leipziger Straße fehlt bislang allerdings noch die Baugenehmigung. Wenn alles reibungslos klappt, könnte das Flachdach im nächsten Sommer für die Nachbarschaft öffnen.
Ein bisschen auf die Euphoriebremse tritt derzeit noch Stephan Lang von der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM), der die Immobilie in der Leipziger Straße gehört. „Wir sind noch ganz am Anfang“, sagt Lang. Nach der Evaluierung einer möglichen Pilotphase im kommenden Jahr, werde man schauen, ob das Projekt möglicherweise auch etwas für andere Häuser sein könne. „Deswegen ist es jetzt auch zu früh, über Potenzialflächen in unserem Bestand zu spekulieren. Oft sind die Dächer nicht begehbar, die Nutzung wegen Mobilfunkantennen oder anderer Aufbauten schwierig oder unmöglich“, sagt Lang.
Aber die Idee des Stadtgewitter-Kollektivs sei zweifelsohne sehr charmant, sagt Lang – die Kooperation mit „Himmelblick“ sei man eingegangen, weil die WBM immer daran interessiert sei, für ihre Mieter*innen – zumal in der dicht besiedelten Innenstadt – Freiräume und Orte der Begegnung zu schaffen. Man praktiziere das bereits sehr erfolgreich mit Mietergärten und grünen Innenhöfen. Lang sagt: „Mit der Kooperation wollen wir herausfinden, ob Dächer ebenfalls eine Option sein könnten.“
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