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Frau Dr. Sommer aus der „Bravo“„Das war mein Traumjob“

Wegen sinkender Auflage hat „Bravo“ der Leiterin des Sex-Ressorts, Jutta Stiehler, gekündigt. Ein Gespräch über Kondome, Squirting und Beratung.

Werde ich vom Knutschen schwanger? Bild: imago/Westend61
Marlene Halser
Interview von Marlene Halser

taz: Frau Stiehler, Bravo kämpft ums Überleben. Haben Sie Mitleid?

Jutta Stiehler: Ja, großes! Und jetzt soll sie sogar nur noch 14-tägig erscheinen. Auch wenn mich die Kündigung, die ich nach 16 Jahren im Dr.-Sommer-Team erhielt, sehr getroffen hat, war auch die Zeit zuvor belastend. All die Umstrukturierungen, die Chefredaktion wurde quasi über Nacht ausgetauscht, Kollegen mussten gehen. Natürlich verstehe ich, dass bei sinkender Auflage gespart werden muss. Bloß haben sich die Fragen an Dr. Sommer über die Jahre nicht verändert. Liebeskummer tut in jedem Jahrzehnt weh. Und Fragen zur körperlichen Entwicklung und den Gefühlen in der Pubertät ändern sich auch nicht. Da wäre schon weiterhin Bedarf gewesen.

Trotzdem sank auch in Ihrer Rubrik die Nachfrage. Zwischen 3.000 und 5.000 Zuschriften wöchentlich bekam das Dr.-Sommer-Team zu Hochzeiten. Jetzt sind es noch 300 pro Woche. Warum?

Das hat verschiedene Gründe. Zum einen die insgesamt sinkende Auflage des Magazins. Viele Jugendliche brauchen die Bravo nicht mehr, seit sie bei Twitter direkt mitlesen können, was die Stars schreiben. Weniger Leser bedeutet auch weniger Zuschriften. Und dann kann man sich über praktische Fragen auch online informieren. Soll ich Binden oder Tampons benutzen? Wie benutze ich ein Kondom?

Das Internet hat Sie also überflüssig gemacht?

Nein. Meine Erfahrung ist: Je größer das Angebot an Informationen ist, umso verunsicherter sind Jugendliche. Die zentrale Frage ist ja häufig: Wie ist es bei mir? Das kann nur die individuelle Beratung leisten. Letztlich waren wir – zumindest zu meiner Zeit, wie das heute ist, kann ich nicht beurteilen – eine ganz seriöse Jugendberatungsstelle mit fachlich ausgebildetem Personal. Wir waren zwar für mehrere Seiten verantwortlich, aber die direkte Beratung war sehr wichtig. Als ich anfing, gab es sieben Telefonsprechstunden pro Woche, dann fünf, dann drei. Heute schreiben Jugendliche lieber Mails.

Haben Sie immer alle Fragen beantwortet?

Ja. Alles bis auf offensichtliche Scherzfragen. Aber selbst da haben wir im Zweifelsfall zurückgeschrieben. Unsere Maxime war immer: Lieber nehmen wir mal eine Frage zu viel ernst als eine zu wenig. Wer an Bravo schreibt, der will etwas wissen oder hat etwas auf dem Herzen. Das ist eine große Verantwortung.

Bild: dpa
Im Interview: Bravo

Cover: Die Zeitschrift erschien erstmals am 26. August 1956 - mit Marilyn Monroe auf dem Titel.

Sex: Unter dem Pseudonym "Dr. Jochen Sommer" beantwortete der Psychotherapeut und Religionslehrer Martin Goldstein 1969 erstmals Fragen der Jugendlichen zum Thema Sexualität. In den vergangenen 16 Jahren leitete Jutta Stiehler (Foto) das Dr.-Sommer-Team.

Krise: Am auflagenstärksten war das Magazin Ende der 1970er Jahre und nach der Wiedervereinigung (mit einer wöchentlichen Auflage von 1,5 Millionen). Seither ging es bergab. Im ersten Quartal 2014 wurden wöchentlich noch 145.000 Hefte gedruckt.

Aber kann diese Fragen nicht jeder beantworten?

Auf keinen Fall. Man braucht eine entsprechende fachliche Ausbildung. Und ein Herz für die Jugendlichen. Ich will das jetzt nicht so esoterisch sagen, aber wenn ich eine Mail oder einen Brief lese, dann spüre ich, ob da etwas mitschwingt. Ich muss also zwischen den Zeilen lesen: Was schildert mir die Person als Problem und wie passt das zusammen? Natürlich beantworte ich zuerst die gestellte Frage. Aber wenn ich darüber hinaus eine Angst oder einen Kummer durchgehört habe, habe ich oft nachgefragt und das Angebot gemacht: Du kannst dich gern noch mal melden.

Da ist also oft auch eine Kommunikation entstanden, die über einen Brief hinausging?

Zum Teil ja. Wenn es um Themen wie Gewalt in der Familie, sehr schlimmen Liebeskummer oder sexuelle Gewalt ging. Meist waren es Mädchen, die mir schrieben: Ich habe einen lieben Freund, aber jedes Mal, wenn er mich anfasst, kriege ich Angst. Dann geht es darum, dass man den Jugendlichen vermittelt: Ich höre dich, du bist nicht allein. Für deine Reaktion muss es einen Grund geben, weil du deinen Freund ja magst. Überleg mal. Hat dir mal jemand Angst gemacht, dich angefasst, dir wehgetan? Psychologisch gesehen bleibt nach solchen traumatischen Erlebnissen eine körperliche und eine seelische Erinnerung, die verarbeitet werden muss. Sonst ist eine befreite Sexualität nicht möglich.

taz am wochenende

Die Nazis legten fest: Mörder sind heimtückisch. Jetzt will der Justizminister den Mordparagrafen reformieren, den Begriff vielleicht abschaffen. Kann es eine Gesellschaft ohne Mord geben? Ermittlungen in einem besonders schweren Fall in der taz.am wochenende vom 18./19.Oktober 2014. Außerdem: Leben im Krieg – In Aleppo wohnen Menschen, aber wie? Reportage aus der geschundenen Stadt. Und: Ein Schlagabtausch mit dem Regisseur Fatih Akin. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Wie haben die Jugendlichen reagiert?

Oft sehen sie erst gar keinen Zusammenhang. Diesen Mechanismus habe ich erklärt und Anlaufstellen dazu geschrieben. Für eine 15-Jährige ist es ein großer Schritt, zu einer Beratungsstelle zu gehen. Bis es so weit war, habe ich oft ermutigt und bestärkt: Toll, dass du einen Termin ausgemacht hast. Ich denk an dich, wenn du dahin gehst.

Ist Ihnen das schwergefallen?

Im Gegenteil. Jugendlichen zu helfen war mein Traumjob. Der direkte Kontakt mit ihnen fehlt mir sehr.

Schockiert hat Sie nie etwas?

Schockiert nicht, aber manche Fotos sind mir in Erinnerung geblieben. Ein Junge hatte zum Beispiel seinen erigierten Penis fotografiert, weil er mir einen Ausschlag an der Eichel zeigen wollte. Letztlich war das ein großer Vertrauensbeweis. Dann kamen mit der Zeit auch immer wieder neue Themen auf. Intimrasur zum Beispiel oder Analverkehr. Darüber hätten wir Jahre zuvor nicht geschrieben. Und was Squirting [weibliche Ejakulation; Anm. d. Redaktion] ist, musste ich auch erst mal nachschlagen.

Heute sind Christian und Nina auf der Dr.-Sommer-Seite abgebildet …

… das sind Models. Die beiden gibt es im Dr.-Sommer-Team nicht. Die Jugendlichen sollen sich mit den beiden identifizieren können.

Wie hat sich das Team nach Ihrem Fortgang verändert?

Es ist in erster Linie kleiner geworden. Zu Hochzeiten waren wir zu sechst im Print und noch mal drei oder vier online. Als ich ging, blieben nur eine fest angestellte Erzieherin, ein freier Mitarbeiter mit Fachausbildung sowie eine Journalistin übrig, die jetzt die vier bis sechs Seiten der Dr.-Sommer-Strecke betreuen. Ich weiß, wie zeitaufwendig die Veröffentlichungen sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da noch viel Zeit für individuelle Beratung bleibt.

Bedauern Sie das?

Sehr. Für Jugendliche ist Dr. Sommer nach wie vor eine Instanz, die man alles fragen kann. Wenn diese Fragen dann nicht beantwortet werden, tut mir das für jeden einzelnen Jugendlichen leid, der keine oder nur eine technische Antwort kriegt. Letztlich geht es doch um die Emotionen, darum, dass man Herzklopfen hat, wenn man zum ersten Mal ein Kondom überrollt, und um Erfahrungen, dass die erste Regel beispielsweise auch wehtun kann. Die Pubertät ist so eine besondere Zeit. Die Jugendlichen wollen sich abgrenzen, sich neu orientieren, sind voller Neugier, aber auch Unsicherheit und Scham. Im Körper passiert ganz viel Neues. Zwar streben sie weg von den Eltern, brauchen aber gleichzeitig viel Zuwendung und Orientierung.

Die Zeiten haben sich geändert. 1972 wurden zwei Ausgaben der Bravo wegen Artikeln über Selbstbefriedigung als jugendgefährdend eingestuft und indiziert …

… mit einer lächerlichen Begründung. Die sexuelle Reife allein berechtigt nicht zur Inbetriebnahme der Geschlechtsorgane, stand da.

Das bedeutet aber auch: Früher war Bravo oft die einzige Quelle der Aufklärung. Machen Eltern das heute besser?

Auf jeden Fall. Aber es gibt Fragen, die Jugendliche nicht fragen und die Eltern nicht beantworten wollen. Als mein jüngerer Sohn 15 war, hat er mich gefragt, wie man Kondome verwendet. Er hatte damals eine Freundin, also hab ich den beiden übers Wochenende einen Verhütungsmittelkoffer mitgebracht. Da waren Kondome drin und Dildos in Delfinform. Ich sagte zu den beiden: Schaut mal rein. Ihr dürft alles ausprobieren. Aber ich hab sie das allein machen lassen, nichts erklärt oder gar gezeigt. Er soll nicht an seine Mutter denken müssen, wenn er ein Kondom überrollt. Ich kann das einem fremden Jungen erklären. Aber ich denke, beim eigenen Sohn ist diese Verknüpfung psychologisch ungünstig.

Wie geht’s für Sie jetzt weiter?

Ich plane, eine Praxis für Beratung, Therapie und Entspannung zu eröffnen sowie Vorträge und Seminare zu halten und Texte zu schreiben. Es gibt auch schon einige Angebote. Ich bin zuversichtlich, dass da noch mehr kommt!

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