Französisches Thrillerdrama: Prozess ohne Gewinner
Mit „Menschliche Dinge“ inszeniert Yvan Attal ein packendes Drama. Es geht um einen Vergewaltigungsvorwurf.
Ihre Vorliebe für das Obskure in der Kunst erklärte Charlotte Gainsbourg einmal damit, dass die dunklen Seiten des Lebens doch viel interessanter seien als die heile Welt. In ihrem neuen Film bringt sie beides zusammen. Wie der Titel vermuten lässt, geht es in „Menschliche Dinge“ nicht um das übersinnlich-aufgeladene Böse, für das die französische Schauspielerin etwa aus Filmen von Lars von Trier („Antichrist“) bekannt ist, sondern um eine Form des Übels, das sich gerade in seiner Alltäglichkeit manifestiert.
Unter der Regie ihres Ehemanns Yvan Attal („Der Hund bleibt“) übernimmt Gainsbourg in „Menschliche Dinge“ die Rolle der Essayistin Claire Farel, angelegt als eine diskursprägende Stimmen der französischen Öffentlichkeit. Deren Selbstbild als vehemente Streiterin für den Feminismus zerfällt, als ausgerechnet ihr Sohn Alexandre, gespielt von ihrem echten Sohn Ben Attal, der Vergewaltigung bezichtigt wird.
Wie es typisch für die meisten Projekte Gainsbourgs ist, blickt auch „Menschliche Dinge“ mit einer gewissen Ambivalenz in gesellschaftliche Abgründe und interessiert sich mehr für die Tragödie, die ein solcher Vorwurf zunächst für alle Beteiligten bedeutet, für den Angeklagten wie die Klägerin, für seine Familie wie die ihre, anstatt sich voll und ganz auf die Seite einer eindeutig Betroffenen und ihren Schmerz zu fokussieren.
Familiäres Umfeld
So verwendet das Drama, noch bevor es zur verhängnisvollen Nacht kommt, viel Zeit darauf, Alexandre und sein familiäres Umfeld vorzustellen. Dem Bild des verwöhnten Studenten einer Elite-Universität, der sich seiner Macht als Sohn eines ebenso einflussreichen wie wohlhabenden Star-Journalisten-Vaters sehr wohl bewusst ist, werden dabei vereinzelt sympathischere Seiten gegenübergestellt.
Beim Treffen mit seiner Mutter Claire etwa, die mit ihrem neuen Partner Adam (Mathieu Kassovitz) zusammenlebt, zeigt er sich als liebevoller Sohn. Gegenüber Adams 17-jähriger Tochter Mila (Suzanne Jouannet) tritt er höflich, beinahe schüchtern auf.
Mila ist es allerdings, die am nächsten Morgen Anzeige gegen Alexandre erstattet. Von hier an wechselt der Film mehrmals zwischen der Perspektive des potenziellen Täters und des angeblichen Opfers, zeigt aber nie, was im Schuppen geschah, in den sich die beiden während einer Party zurückzogen.
Bemühte Vieldeutigkeit
„Menschliche Dinge“ führt so überaus effektvoll die Erniedrigungen, die beide Seiten beim Versuch der Aufklärung der Vorfälle über sich ergehen lassen müssen, vor Augen. Die bemühte Vieldeutigkeit kann allerdings nicht aufrechterhalten werden. Dafür wird Alexandre bereits im Vorfeld zu eindeutig als ein Mann gezeichnet, der sich schon in der Vergangenheit von Frauen nahm, was ihm seiner Auffassung nach „zusteht“. Dass Mila durch Alexandre sexuelle Gewalt angetan wurde, lässt sich auch anhand des bis hierhin Gezeigten annehmen.
„Menschliche Dinge“. Regie: Yvan Attal. Mit Charlotte Gainsbourg, Ben Attal u. a. Frankreich 2021, 138 Min.
Gegen eine echte Unvoreingenommenheit spricht zudem die Tatsache, dass das von Attal mit Yaël Langmann verfasste Drehbuch, ebenso wie die gleichnamige Romanvorlage von Karine Tuil, vom „Fall Stanford“ inspiriert ist, der 2016 eine neuerliche Debatte um die Bedeutung von ausdrücklicher Zustimmung zu sexuellen Handlungen lostrat.
In einem überaus intensiven Gerichtsprozess geht es daher zumindest für Zuschauer, die immerhin etwas mehr als die Justiz wissen, bald nur noch um die Klärung von Feinheiten, etwa inwieweit sich Alexandre bewusst war, was er tat. Anders ausgedrückt: Ob er zumindest von Einvernehmlichkeit ausging oder ob er absichtlich von Mila gezogene Grenzen überschritt.
Das solide inszenierte und herausragend besetzte Drama schafft es so, die Schwierigkeiten bei der gerichtlichen Bewertung von Vergewaltigungen zu beleuchten, auch welche Rolle unterschiedliche sozioökonomische Hintergründe spielen mögen. Dass „Menschliche Dinge“ unaufhörlich betont, welchen Einschnitt eine solche Tat im Leben aller Beteiligten bedeutet, ist richtig. Die mitschwingende Sympathie für den Täter hinterlässt allerdings einen unangenehmen Beigeschmack.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Kohleausstieg 2030 in Gefahr
Aus für neue Kraftwerkspläne
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Russlands Nachschub im Ukraine-Krieg
Zu viele Vaterlandshelden