Frakturen in der Haasenburg GmbH: Die Akte Nora
Ihr wurde im Heim der Arm gebrochen. Das Ministerium wollte davon nichts gewusst haben. Dokumente stellen diese Aussage nun in Frage.
HAMBURG/BERLIN taz | Erst als die taz im Sommer über drei Knochenbrüche in den Heimen der Haasenburg GmbH berichtete, nahm die Staatsanwaltschaft Cottbus die Ermittlungen auf. In Teamleitungsprotokollen, die der taz vorliegen, fanden sich Hinweise auf schwere Armverletzungen bei drei Mädchen, die offenbar bei sogenannten Antiaggressionsmaßnahmen durch Mitarbeiter entstanden waren.
Tatsächlich erlitten zwei Mädchen Brüche – der anderen Jugendlichen wurde der Arm ausgekugelt. Wie neue Recherchen der taz belegen, waren die Angaben, die das brandenburgische Bildungsministerium damals zu den Fällen machte, nicht korrekt. Sprecher Stephan Breiding schrieb Ende Juni auf die Fragen der taz, dass es „nach den im Landesjugendamt vorliegenden Meldungen nur in einem der drei beschriebenen Fälle zu einem Armbruch kam und dass dieser nicht durch Mitarbeiter der Haasenburg verursacht wurde“.
Tatsächlich aber gab es zwei Fälle von Frakturen, die das Ministerium hätte kennen müssen. Dies geht aus der Akte des betroffenen Mädchens Nora* hervor, wie auch aus Protokollen des Heims, die der taz vorliegen. Im Juni aber bezog sich der Ministeriumssprecher nur auf die Fraktur bei der 18-jährigen Tina* im Februar 2009. Zudem relativierte er den Knochenbruch: Dieser sei „nicht durch die Einwirkung eines Mitarbeiters der Haasenburg entstanden“. Auf die Frage, wie dies möglich sei, antwortete das Ministerium nicht mehr.
Doch nun stellt ein Fax die Darstellung der Behörde in Frage. Aus dem Dokument geht hervor, dass sich das Mädchen den Arm keineswegs allein gebrochen hatte, wie es das Ministerium weismachen wollte. Das Fax ist auf den 20. Februar 2009 datiert. Absender: Haasenburg GmbH. Darin wird dem für Tina verantwortlichen Jugendamt in Hannover der Armbruch mitgeteilt. Es heißt, sie habe „unter Anwendung der eintrainierten Eskalationstechniken“ gebändigt werden müssen. „Sie widersetzte sich dem offenbar so massiv, jedoch ungelenk, dass ihr Arm am Ellenbogen brach.“
Ein Widersetzen „ohne die Einwirkung eines Mitarbeiters der Haasenburg“, wie das Ministerium behauptet, ist schwer vorstellbar. Zudem heißt es: Die Familie und „das zuständige Landesjugendamt, Frau Stöhr, wurden über diesen Vorfall zeitnah informiert.“ Anita Stöhr ist die Zuständige für die Brandenburgische Heimaufsicht – die Behörde ist dem Bildungsministerium unterstellt.
Seit fast einem Jahr berichtet die taz über die Missstände in den Haasenburg-Heimen. Hier eine Übersicht, was bisher geschah.
„Erzieher mit dem Stuhl angegriffen“
Auch die ausgekugelte Schulter des anderen Mädchens möchte das Ministerium nicht den Erziehern der Haasenburg GmbH vorwerfen: „Die Verletzung ist entstanden, nachdem die Jugendliche zuvor Erzieher mit einem Stuhl angegriffen hatte.“ Dabei hätte das Ministerium aufhorchen müssen: Kurz vor der Rechtfertigung des Vorfalls hatte die taz enthüllt, dass es in den Heimen auch zu einem Todesfall gekommen war; später wurde ein weiterer Fall bekannt.
Bericht: Nur einen Tag nach einem taz-Bericht über Misshandlungsvorwürfe in den Heimen der Haasenburg GmbH kündigte Bildungsministerin Martina Münch (SPD) am 17. Juni eine Untersuchungskommission an. Deren Bericht wird heute vorgestellt. Er soll Empfehlungen über die Zukunft der Haasenburg enthalten.
Knochenbrüche: Ein taz-Bericht am 19. Juni über drei Knochenfrakturen war der Auslöser für die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen, die zwei Tage später aufgenommen wurden. Das Ministerium behauptete, es gäbe nur eine Fraktur, was nach weiteren taz-Recherchen nicht korrekt ist.
Noch deutlicher im Widerspruch zu den Aussagen des Ministeriums steht das, was in der Akte des Mädchens Nora zu lesen ist: die Fraktur, die dem Ministerium angeblich nicht bekannt gewesen sein soll. Dazu wollte Münchs Sprecher im Juni auf erneute Nachfrage nichts mehr mitteilen. Das Ministerium berief sich nun darauf, sich „im laufenden Verfahren“ der Staatsanwaltschaft nicht mehr zu äußern. Mittlerweile wird in etwa 70 Fällen ermittelt.
Wenn man wie die Behörden den Beschreibungen der Haasenburg-Mitarbeiter vertraut, muss Nora ein wahres Monstrum gewesen sein. In einem internen Teamprotokoll steht: „sie kann enorme Kräfte entwickeln“. Das Mädchen sei „verbal aggressiv und provokant“, heißt es in einem der Antiaggressionsprotokolle. Sie „verhielt sich am Abend oppositionell, trotzig, verweigernd, provozierend und grenzaustestend“.
Eskalation am Tag vor Heilig Abend
Das wird einen Tag vor Heiligabend als „auslösende Situation“ für die Antiaggressionsmaßnahme notiert, die im Anschluss um 0.50 Uhr beginnt und um 1.15 Uhr endet. Es heißt: „Die Erzieher begleiten Nora in ihr Zimmer, wird im Zimmer auf dem Boden begrenzt, da weiterhin massiv fremdgefährdend (gebrochener Arm wird jedoch nicht festgehalten)“; eine halbe Stunde später: „Weint, äußert Schmerzen im Arm zu haben“. Um 3.45 Uhr trifft laut Protokoll ein Krankenwagen ein und nimmt das Mädchen mit.
Antiaggressionsmaßnahmen setzten die Mitarbeiter der Haasenburg GmbH nach eigener Aussage nur dann ein, wenn die Kinder sich selbst oder andere gefährden. Mit ähnlichen Rechtfertigungen schnallte die Firma bis 2010 Kinder auf Fixierliegen fest – mitunter stundenlang.
Wie sachgerecht die Antiaggressionsmaßnahme bei Nora verlief, hatte sie bereits Anfang Dezember zu spüren bekommen, als ihr dabei der Oberarm gebrochen worden war. Doch die schwere Verletzung schützte sie nicht vor weiteren Antiaggressionsmaßnahmen, wie das Protokoll vom Tag vor Heiligabend belegt.
Wieder kommt der Arzt
Und nur eine Woche später, am 30. 12. 2009, unterzogen die Haasenburg-Erzieher das angeblich so gefährliche Mädchen erneut einer Antiaggressionsmaßnahme, trotz des gebrochenen Arms: „Fixierung auf dem Boden“, heißt es im Protokoll. Nach zwei Stunden klagt Nora „über Schmerzen im Arm, Bereitschaftsärztin wird kontaktiert […] sie erklärt den Fall mit dem Arm als nicht akut. Die Ärztin rät, den Arm weiterhin vorsichtig zu berühren, ansonsten handele es sich wohl um den Versuch Noras, mit dem Arm Forderungen zu stellen.“ Es folgt: „Nora wird auf dem Boden begrenzt.“
Insgesamt acht Erzieher waren laut dem Protokoll bei der Prozedur anwesend. Sie dauerte von 20.30 am Abend bis 0.38 Uhr in der Nacht. Am Ende musste der Notarzt gerufen werden. Bereits eine Woche später „kündigt sie weitere Gewalttaten an“, so steht es im nächsten Antiaggressionsprotokoll über Nora. „Begrenzung auf dem Boden, Antiaggressionsraum wird vorbereitet; Haarspangen und Schuhe werden entfernt.“ Und wieder: „Weint, klagt über Schmerzen im Arm“. Ein weiteres Mal musste der Arzt wegen Nora kommen. Es war nicht das letzte Mal.
Wie es die Firma sieht, war aber nicht das eigene Personal für die Fraktur verantwortlich, vielmehr habe sich das Kind den Arm allein gebrochen. In einem Teamprotokoll zu dem Vorfall steht: „es hat eine AA-Maßnahme stattgefunden, woraufhin sie sich so stark wehrte, dass sie sich ihren Arm brach -> sie kann enorme Kräfte entwickeln.“
Post fürs Bezirksamt Spandau von der Haasenburg
Die so gefährliche Minderjährige wog zu diesem Zeitpunkt 60 Kilogramm und war 1,64 Meter groß.
Drei Tage nach dem Armbruch, am 8. Dezember 2009, erreicht das Bezirksamt Spandau, Abteilung Jugend und Familie, offenbar ein Fax der Heimleitung. Dort heißt es über den Vorfall: „Um eine weitere Fremdgefährdung zu verhindern, wurde Nora mit dem Rücken auf den Boden gelegt. Nora versuchte sich durch massive körperliche Aggressivität aus dieser Situation zu befreien. Durch Noras massive körperliche Gegenwehr kam es in dieser Situation zum Bruch im linken Oberarm.“
Nach dieser „Meldung über besonderes Vorkommnis“ wurde Nora keineswegs sofort vom zuständigen Jugendamt aus der Einrichtung geholt.
Die Behörden hätten Bescheid wissen müssen
Die Antiaggressionsprotokolle legen nahe, dass auch die brandenburgischen Behörden über Noras Fall hätten informiert sein müssen. Denn in den Dokumenten, die das dortige Landesjugendamt einfordern kann, wird Bezug auf den verletzten Arm genommen. Dass die Antiaggressionsmaßnahmen gemeldet wurden, belegt der Vermerk: „an das LJA per E-Mail“. „LJA“ steht für Landesjugendamt. Die Behörde müsste also davon erfahren haben, wenn die Aufsicht funktionieren würde.
Was in den Heimen der Haasenburg GmbH passierte, bringt zunehmend auch das Ministerium selbst in Bedrängnis. Denn das Landesjugendamt, also die Aufsichtsbehörde, die dem Bildungsministerium unterstellt ist, hat die Betriebsgenehmigung für die Heime über ein Jahrzehnt langt erneuert – wenn auch mit strengeren Auflagen.
Dafür gibt es zwei Erklärungen: Entweder die Kontrolle versagte. Oder aber die Behörden schauten weg und bewerteten die harschen Methoden der Haasenburg GmbH als geeignete Erziehungsmaßnahmen für vermeintlich brutale minderjährige Straftäter. Vernachlässigt wird dabei, dass Jugendliche nicht auf der Grundlage des Strafgesetzbuches in solchen Heimen sind, sondern nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch, Paragraf 1631b.
„Traumatisches Erlebnis“
Dass dies nur wenige interessiert, weiß am besten die junge Frau, die im Juni 2013 einen Brief über ihre Erlebnisse in der Haasenburg GmbH schreibt. Sie könne nur davor warnen, Kinder dort einzusperren: „Da ich selber miterlebt habe und auch an eigenen Leibe spüren musste, wie es ist, schikaniert, niedergemacht, angeschrien, misshandelt, fixiert und eingesperrt zu werden“.
Die junge Frau schreibt, wie ihr der Arm gebrochen und eine Platte am Oberarm mit neun Schrauben eingesetzt wurde. „Ich habe wahrscheinlich mein Leben lang diese Narbe und seelische Schäden, denn dieses traumatische Erlebnis kann man nicht einfach so verarbeiten!“
Die Absenderin des Briefes heißt Nora.
* Die Namen sind geändert
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