Fragwürdiges Urteil in G20-Prozess: Im Zeichen des Fischerhuts
Ein Kieler wurde wegen eines Flaschenwurfs beim G20-Gipfel zu einer Haftstrafe ohne Bewährung verurteilt. Ein Hut soll ihn belastet haben.
Die Strafe ist hoch – was allerdings laut dem Hamburger Gerichtssprecher Kai Wantzen daran liegt, dass Toto zum Zeitpunkt der Tat unter laufender Bewährung stand. 2015 war er wegen eines Betäubungsmitteldelikts zu neun Monaten Strafe auf Bewährung verurteilt worden.
Allerdings tauchten in dem G20-Prozess nach Schilderungen von Beobachter*innen einige Merkwürdigkeiten auf. Im Zentrum stehen dabei unglaubwürdige Aussagen von Polizeibeamt*innen und ein Fischerhut, der zum Symbol des Widerstands wurde.
Am Vorabend des G20-Gipfels, kurz nachdem die autonome Welcome-to-Hell-Demo gewaltsam von der Polizei zerschlagen worden war, war Toto wie viele andere in Altona unterwegs, um in kleineren Gruppen weiter zu demonstrieren. „Auf der Höhe Altonaer Straße, Ecke Schulterblatt, sind plötzlich Polizist*innen auf die Kreuzung gestürmt“, sagt Toto.
Viele Demonstrant*innen seien geflohen, aber ein Polizist habe sich auf den Kieler geschmissen und ihn zu Boden gebracht. Ein Beamter habe ihn im Schwitzkasten gehalten, zwei andere hätten je einen seiner Arme fixiert. Dann sei er in einen Gefangenentransporter gebracht und durchsucht worden. Kurz darauf seien die Insassen in einer Seitenstraße wieder freigelassen worden.
Kristin Pietrzyk, Verteidigerin des Angeklagten Toto
Im März erreichte ihn die Anklage: Widerstand, tätlicher Angriff, Landfriedensbruch und versuchte schwere Körperverletzung wirft die Staatsanwaltschaft Toto vor. Eine Soli-Gruppe schreibt auf dem Blog „Free Toto“: „Da die Anklage sich recht schwammig anhörte und es laut dieser eigentlich keinen richtigen Beweis für die Tat gab, gingen wir erst mal positiv an den Prozess heran.“
In den ersten Verhandlungen im Mai 2019 zeigte die Staatsanwaltschaft mehrere Videos, aber auf keinem sei Toto zu erkennen gewesen, sagen Prozessbeobachter*innen der Soligruppe. Das bestätigt auch Gerichtssprecher Wantzen. Ein Polizist sagte aus, er habe den Angeklagten anhand seines schwarzen Fischerhutes identifiziert. Nur war davon in den Berichten, die der Polizist angefertigt hatte, nichts zu lesen.
Zwei Protokolle hat der Beamte, der Toto festgenommen hatte, über den Vorgang verfasst – eines direkt nach der Untersuchung des Festgenommenen im Gefangenentransporter, eins später auf dem Präsidium. Im Prozess sagte er aus, er habe den Angeklagten auf der Kreuzung, bevor es zur Festnahme kam, die ganze Zeit im Auge gehabt und ihn anhand seines Fischerhuts identifiziert.
„Warum steht das dann nicht in den Protokollen?“, fragt Totos Verteidigerin Kristin Pietrzyk. Dafür taucht das belastende Kleidungsstück an einer ganz anderen Stelle auf: In einer Dienstbesprechung der Polizei vor dem G20-Einsatz sei vor Menschen mit Fischerhüten gewarnt worden, weil diese besonders gewalttätig seien. Das steht laut Pietrzyk in der Akte eines anderen Verfahrens. Pietrzyk beantragte, sie als Beweismittel im Prozess gegen Toto heranzuziehen, doch der Richter Martin Hinkelmann lehnte das ab.
Die Prozessbeobachter*innen der Soligruppe beschreiben die Beweisführung der Staatsanwaltschaft als äußerst zweifelhaft. Auch Pietrzyk sagt, die Aussagen der beiden Polizisten hätten überhaupt nicht zu den Videoaufnahmen gepasst. Zudem hätten sich die Zeugen bis auf den Fischerhut nicht erinnern können, wie der Flaschenwerfer aussah.
Aus dem Hut gezaubert
Dem Richter reichte das aber. Am neunten Verhandlungstag verurteilte er Toto zu einem Jahr und vier Monaten Haft. „Ich bin vom Glauben abgefallen“, sagt Pietrzyk. Wie das Gericht trotz der Videos und der dazu widersprüchlichen Aussagen der Polizei, trotz des plötzlich als Identifikationsmerkmal aus dem Hut gezauberten Fischerhuts und der insgesamt dünnen Beweislage den Vorwürfen folgen könne, sei ihr unverständlich.
Ein politischer Richterspruch? „Ich glaube, dass alle G20-Urteile mit so hohen Strafen unter Eindruck des Gipfels gefällt wurden“, sagt sie. Dass damit Exempel statuiert werden sollen, sei offensichtlich.
Toto und seine Verteidigerin haben mittlerweile Berufung eingelegt. Auch die Staatsanwaltschaft ihrerseits hat Berufung eingelegt. Die Soligruppe erklärt unterdessen den Fischerhut zum Symbol des Widerstands: „Der Fischerhut ist das Symbol für die Absurdität des Prozesses gegen Toto“, steht auf dem Blog. Und: „Dieser Prozess ist genau wie die anderen G20-Prozesse und die extreme Polizeigewalt während der Proteste ein Mittel der Repression und Abschreckung gegenüber linken Aktivist*innen. Kampf ihrer Klassenjustiz!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos