Fotoserie „Leaving and Waving“: Vor dem Haus
Sie winken und lächeln. Die US-Fotografin Deanna Dikeman hat 27 Jahre ihre Eltern abgelichtet, während sie sich von ihr verabschieden.
Sich von jemandem zu verabschieden, den man gerne hat, ist traurig. Gleich wird man den geliebten Menschen ja vermissen. Eigentlich müsste man also weinen beim Abschied, doch fast immer winken wir, drehen uns noch einmal um, nachdem wir ein paar Schritte gelaufen sind, und winken, im Gesicht ein Lächeln. Weil wir sagen wollen: Es war schön mit dir, ich freue mich aufs nächste Mal, lass uns nicht traurig sein. Wir winken und stellen ein letztes Mal Nähe her – ganz ohne Worte.
Nah kommen dem Betrachter auch die Eltern der Fotografin Deanna Dikeman. 27 Jahre hat sie den Moment fotografiert, in dem sie das elterliche Wohnhaus in Sioux City im US-Bundesstaat Iowa nach ihrem Besuch verlässt. Den Moment, in dem ihre Eltern meist vor ihrer Garage stehen und zum Abschied winken. Die Fotos der Arbeit „Leaving and Waving“ waren ursprünglich Teil eines größeren Projekts, für das Dikeman ihre Eltern beim Gärtnern, Kochen, Grillen fotografierte. Im Alltag also.
Leaving and Waving. Fotografien von Deanna Dikeman. Erscheint im Verlag Chose Commune, 66 Fotografien, 112 Seiten, 48 €. Veröffentlichung: März 2021
„Ich habe nie vorgehabt, eine Serie zu machen. Ich habe die Fotos nur gemacht, um mit der Traurigkeit des Abschieds umzugehen“, sagt Dikeman. Irgendwann bei der Durchsicht der Bilder sah sie, dass die Abschiedsfotos eine besondere Geschichte erzählen. „Eine Geschichte über Familie, das Altern und die Trauer beim Verabschieden.“
Die Bilder erzählen aber auch vom Leben der Fotografin. Im Rückspiegel erkennt man sie manchmal beim Fotografieren. Ein Ehering scheint zu verschwinden, aus einem Baby wird ein junger Mann, der selbst Auto fährt. Ein Hund wird größer. Die Jahreszeiten wechseln, die Mode auch. Die Gesichter der Eltern werden faltiger, ihre Körper gebückter, ihr Lächeln wehmütiger.
Leavin and Waving
Man winkt zur Begrüßung, winkt zum Abschied, winkt als König dem Volk zu, als Kanzlerin den WählerInnen. Man winkt von Autobahnbrücken, winkt dem Zug hinterher, dem Nachbarn über die Straße hinweg zu. Man überbrückt Distanz, die mit Worten nicht zu überbrücken wären.
Gerade jetzt, in dieser Zeit der verordneten Distanz, wird das Winken wieder gegenwärtiger. Keine Videokonferenz, an deren Ende nicht Hände vom unteren Bildschirmrand her auftauchen und meist einmal nach links, einmal nach rechts bewegt werden. Kein Spaziergang, an dessen Ende das Winken die Umarmung ersetzt, von einem sehnsuchtsvollen Lächeln begleitet.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Nachdem ihr Vater gestorben ist, winkt 2009 nur noch Dikemans Mutter, acht Jahre später zieht die Mutter in ein Heim, ihr Lächeln wird schon ein paar Jahre zuvor seltener, ihr Gesicht beim Abschied ernster. Es könnte ja das letzte Mal Abschied sein.
Das letzte Foto der Serie zeigt die leere Einfahrt, das Garagentor ist geschlossen. Zum ersten Mal winkt niemand, als Deanna Dikeman ins Auto steigt und davonfährt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag