Flüchtlinge in Italien: Dioros dritter Anlauf
Die Grenze zu Frankreich ist bereits dicht. Seither versuchen immer mehr Flüchtlinge in die Schweiz auszuweichen.
„Ich habe gesagt, dass ich Asyl will“, sagt Dioro. Die Polizisten hätten das ignoriert. Der 26-Jährige fängt an, die Schnürsenkel durch die Löcher zu ziehen.
Am Vortag ist er mit anderen Afrikanern in Como aufgebrochen. Sie haben den Bus in die Berge genommen, bis hinter das Dorf Drezzo, sind vorbeigelaufen am Turm der Madonna-Assunta-Kapelle, durch den Tannenwald. Um Mitternacht sind sie über die Grenze. Doch da stand das schweizerische Grenzwachtkorps. Um zwei Uhr griff es die Gruppe auf und übergab sie der italienischen Polizei.
Neue Routen entstehen
Allein in dieser Woche sind über 11.000 Flüchtlinge nach Italien gelangt, insgesamt waren es seit Jahresanfang bereits mehr als 100.000. Die wenigsten wollen bleiben. Doch weiterzuziehen wird immer schwieriger. Der Grenzübergang in Ventimiglia nach Südfrankreich – für Flüchtlinge seit Langem geschlossen. Im April fing dann Österreich an, eine Kontrollstelle am Brenner zu bauen. Das hat sich herumgesprochen. Mehr Flüchtlinge entschieden sich für den Weg über Mailand nach Zürich. Bis Juni ließ die Schweiz viele passieren. Das ist nun anders.
Dioros Kumpel befinden sich noch in Polizeigewahrsam. Im Hof der Wache stehen zwei Dixi-Kos. Einige Dutzend Afrikaner warten in der Hitze, bewacht von Polizisten mit Schutzmasken. Nach einer Weile reicht man ihnen Brötchen und Wasserflaschen. Gegen halb zwei bricht ein Flüchtling zusammen, Sanitäter tragen ihn auf einer Bahre hinaus.
Keita Dioro stammt aus Mali, nicht weit von der Oasenstadt Timbuktu pflanzte er Tomaten und Süßkartoffeln. Seine Mutter ist Muslima, der Vater Christ, wie er auch. 2012 kam der Dschihad. Dessen Krieger meinten es nicht gut mit jenen, die für sie nur Ungläubige sind. Dioro ging nach Algerien. Zwei Jahre Arbeit, dann hatte er genug Geld. 800 Dollar verlangten die Schlepper in Libyen für den Platz im Boot. Günstig, meint Dioro. „Andere zahlen 1.000.“
Keine Jobs in Sassari
Auch die Schlepper meinten es nicht gut. Als sie die Flüchtlinge auf ihr Boot trieben, schlug einer von ihnen Dioro mit einem Gewehrkolben aufs Ohr. Bis heute hört er nicht richtig. Am 25. Mai zogen ihn italienische Soldaten an Bord ihrer Fregatte. Er kam ins Aufnahmezentrum von Sassari auf Sardinien. Kein Internet, wenig Essen, keine Ärzte. Er wollte nichts geschenkt, sagt Dioro. Doch Arbeit gab es nicht in Sassari. Nach drei Monaten bestieg er die Fähre nach Genua. Die Schweiz sei ein gutes Land, glaubt er.
Dieser und viele weitere Artikel wurden durch finanzielle Unterstützung des Auslandsrecherchefonds ermöglicht.
An den zwei Tagen zuvor hat er es mit dem Zug versucht. Was da geschah, ist am Bahnhof von Chiasso mehrmals am Tag zu besichtigen. Um 16.17 Uhr rollt der Regionalzug aus Mailand auf das Kopfgleis 1. An dessen Ende steht das schweizerische Grenzwachtkorps. Touristen und Pendler laufen vorbei. Dann tauchen zwei dunkelhäutige Männer auf. Die Grenzer gehen auf sie zu, zwei von vorn, einer von hinten. Aus der Menge der Passanten löst sich ein glatzköpfiger Mann. Er hat in Zivil im Zug gesessen. Jetzt zieht er eine Polizeiweste aus der Tasche. „Passport“, sagt einer der Grenzer. Die Männer haben keinen. Umzingelt werden sie in das Innere des Bahnhofsgebäudes geführt. Was dort passiert, wollen die Polizisten nicht sagen.
Etwa 1.500 Flüchtlinge sind im Juli und August pro Woche in Chiasso eingetroffen – sechsmal so viele wie noch Anfang Mai. Nur wer angebe, weiter nach Norden reisen zu wollen, werde abgewiesen, sagt Patrick Benz, Chef des Bereichs Migration des schweizerischen Grenzwachtkorps, in der Neuen Zürcher Zeitung. Wer Asyl beantrage, dürfe im Land bleiben. Doch die Vizechefin der Schweizer Sozialdemokraten, Beatrice Reimann, oder auch die NGO Firdaus werfen den Grenzern vor, auch die meisten anderen Flüchtlinge zurückzuschaffen. Die Schilderung des Maliers Keita Dioro stützt dies.
Undurchschaubare Schweizer
Und so hat sich in einer Grünanlage vor dem Bahnhof von Como ein Flüchtlingslager gebildet. Etwa 350 Menschen kampieren hier seit Wochen. Am Morgen stehen die Menschen zwischen Zelten, kämmen sich und prüfen ihre Frisuren im Smartphone-Display. Kleidung liegt zum Trocknen auf dem Boden. Rechtstipps sind mit schwarzem Filzstift auf Pappe geschrieben. Die meisten der Menschen hier stammen aus Somalia, Sudan, Eritrea, Äthiopien, ein kleinerer Teil aus Westafrika. Was genau die Schweiz tut, gibt den Helfern hier Rätsel auf. „Es ist wirklich kompliziert“ sagt Jacopo Daitone, ein junger Freiwilliger. „Die meisten werden zurückgeschickt.“ Doch nach welchem Muster, sei unklar.
18 Monate dauert es im Schnitt, bis ein Asylsuchender in Italien seinen Antrag abgeben kann. Es gibt wenig Jobs, kaum Sozialleistungen. Dafür umso mehr Lager: Die „Hotspots“ genannten Registrierungslager der EU, Lager für die ersten drei Tage (CPSA), für Migranten ohne Papiere (CDA), für Asylsuchende (Cara), für anerkannte Flüchtlinge (Sprar) und die Internierungslager (CIE). Dienstags und donnerstags bringe die Polizei Flüchtlinge aus Chiasso mit einem Bus in den „Hotspot“ von Taranto, sagt Jacopo. 15 Fahrtstunden entfernt. „Dabei sind die Menschen alle schon registriert.“ Es gehe darum, sie „weit weg von der kritischen Situation an der Grenze zu bringen“, sagt er. „Die wollen sie fertigmachen. Sie sollen erschöpft sein, kein Geld mehr haben, um wiederzukommen.“
330 Kilometer südwestlich, in Ventimiglia, ein ähnliches Bild. Der kleine Ort am Ligurischen Meer ist die letzte Station vor der französischen Grenze. Weiße Maseratis mit Monaco-Kennzeichen fahren umher und wehen etwas vom obszönen Wohlstand der Côte d’Azur herüber. Die Lokale bieten Tintenfischsalat mit Weißwein, Touristen flanieren durch die schattige Einkaufsstraße. Flüchtlinge stehen herum, sitzen vor dem Bahnhof. Sie rauchen Zigaretten, starren die Passanten an, warten, dass irgendetwas passiert. Aber es passiert nichts. Für sie ist die Grenze nach Frankreich zu.
Informelles Camp in Como
Eigentlich sollte die EU Italien Flüchtlinge abnehmen. Doch das geschieht nicht. Dennoch will Italien den Verdacht entkräften, die Flüchtlinge entgegen EU-Recht einfach nach Norden durchzuwinken. Innenminister Angelino Alfano ließ den Willkommenspunkt in Ventimiglia schließen. 200 Flüchtlinge besetzten daraufhin das Gelände einer Kirche, auch das wurde geräumt. Zwischen Bahngleisen und Industriebrachen errichtete danach das Rote Kreuz ein Lager.
610 Menschen sind heute hier untergebracht. Teilweise sitzen die Bewohner seit Jahren in Italien fest, teils sind sie erst wenige Tage im Land. Die Zahl im Lager sei nur „stabil“, weil die Polizei immer wieder Busladungen mit Flüchtlingen zurück in den Süden des Landes bringe, sagt das Rote Kreuz.
Trotzdem versuchen immer wieder Flüchtlinge auch hier über die Grenze zu gelangen. Schwimmend oder zu Fuß. Entweder halten die Italiener sie auf oder die Franzosen.
Zug wird durchkämmt
Neun Minuten braucht der Regionalzug bis ins französische Menton Garavan. Jetzt, am späten Nachmittag, stehen dort am Bahnhof Mannschaftswagen der französischen Nationalpolizei CRS. Die Männer postieren sich vor jeder Tür, bevor der Zugführer sie öffnet. Mit Sonnenbrillen und Schlagstöcken gehen sie in den Zug, zwei durch das obere, zwei durch das untere Stockwerk von jedem Waggon. Sie werden diesmal nicht fündig. Nach ein paar Minuten rollt der Zug weiter Richtung Nizza.
Es ist der Tod Schengens auf Raten. Der EU-Kommission gelingt es nicht, die Einhaltung der EU-Verträge durchzusetzen, es gibt keine kollektive Regelung für das Flüchtlingsproblem. Als erstes Land hatte Deutschland letzten September wieder Grenzkontrollen eingeführt. Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen folgten, noch bis November 2016. Frankreich hat gar bis 2017 verlängert.
„Alle haben ein anderes System“, sagt einer der Afrikaner in der Bar gegenüber der Grenzpolizei von Chiasso. „Die Deutschen, die Belgier, die Schweiz, die Franzosen, die Italiener. Aber am Ende läuft es für uns immer auf das Gleiche hinaus: Wir sitzen im Gefängnis oder auf der Straße. Er fragt: „Hast du eine Zigarette?“
Gefangener Nummer 37.
Die Polizei in Chiasso hat Dioros Fingerabdrücke genommen. Und ihm einen Zettel in die Hand gedrückt: Spätestens in fünf Tagen soll er sich mit seinem Pass im Aufnahmelager von Sassari melden. Dioro hat keinen Pass. Und im Lager wird sein Ohr nicht behandelt, glaubt er.
„Ich fühle mich schwach“, sagt er. Er trägt noch das pinke Armband von der Polizei. Gefangener Nummer 37. Sonst trägt er nichts. Was wird er heute essen?
„Erst mal das hier.“ Er zieht das von der Polizei verteilte Brötchen aus der Tasche seines Kapuzenpullovers.
Und dann?
„Gehe ich nach Como. Dann versuche ich es wieder.“¦
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag