Flüchtlinge in Griechenland: Ganz normaler Ausnahmezustand
In Griechenland hat sich an den katastrophalen Lebensbedingungen für Flüchtlinge bisher wenig geändert. Nun naht der Winter.
Zahlreiche Menschen mussten in Zelten bei Minusgraden überwintern, weil die Kapazitäten in den Containern nicht ausreichten, erinnert sich der 43-Jährige. Sechs-Personen-Zelte waren mit bis zu 25 Menschen vollkommen überbelegt. Schwere Regenfälle durchnässten Decken, Schlafsäcke und Kleidung der Camp-Insassen. Sie hausten im Schlamm. Dann fiel Schnee.
„Wir beobachten, dass sich erneut eine solche Situation anbahnt“, sagt Voulgarakis. Wenn nicht bald etwas von Seiten der Autoritäten geschieht, werden die Menschen hier wieder einen bitteren Winter erleben müssen.“ Doch die Menschen, die sich vor Krieg und Elend nach Europa flüchteten, scheinen vergessen, sagt der Mann, der seit 2015 auf Lesbos lebt.
Noch immer gibt es kein durchgängig fließendes Wasser im regierungsgeführten Camp Moria. Immer wieder wird das Wasser abgestellt. Die sanitären Anlagen reichen längst nicht aus. So hat das Camp eine Kapazität für etwa 1.500 Menschen. Aktuell leben dort 5.000, darunter Hunderte Kinder. Die Bearbeitung der Asylanträge geht nur sehr langsam voran, sodass Tausende Menschen hier eng gedrängt leben müssen.
Im letzten Jahr gab es Tote
„Im letzten Jahr sind bereits Menschen wegen der katastrophalen Zustände ums Leben gekommen“, sagt Voulgaris. „Die verzweifelten Menschen entzündeten in ihren Zelten Feuer, um sich zu wärmen. Sie starben an Rauchvergiftung – so etwas darf in diesem Winter nicht wieder passieren“, fordert Voulgaris.
Die EU müsse endlich Verantwortung übernehmen und die Flüchtlinge aus diesen menschenunwürdigen Bedingungen herausholen. Asylentscheidungen müssen schneller getroffen und Leute umgesiedelt werden. Doch auch dieses Jahr werden wohl Tausende auf griechischen Inseln überwintern müssen.
Die Verzweiflung der Menschen macht sich in psychischen Erkrankungen immer stärker bemerkbar. Darauf weisen Ärzte ohne Grenzen hin. Auch die Zahl selbstmordgefährdeter Personen steigt. „Wir haben nicht genügend Psychologen zur Verfügung“, sagt eine Sprecherin von Ärzte ohne Grenzen. Zwar treffen weitere Psychologen ein, die sich um akute Fälle kümmern werden. Für dringend nötige Nachbehandlungen reichen die Kapazitäten aber längst nicht aus.
Wieder mehr Flüchtlinge und Migranten
Doch die Flüchtlingssituation in Griechenland wird jetzt im Gegensatz zu letztem Jahr nicht mehr als Ausnahmezustand bewertet. Auch wenn die Lage auf den Inseln schlimm sei, sagt Boris Cheshirkov, Sprecher des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. „Wir haben die griechischen Behörden aufgefordert, die Camps auf den Inseln winterfest zu machen“, sagt er. Das schlechte Wetter komme, schon jetzt regne es oft und die Nächte sind kalt.
Doch ohne Anweisungen der griechischen Regierung könne der UNHCR nicht agieren, sagt der Sprecher. „Es ist nicht unsere Aufgabe, Geld der griechischen Regierung für die Flüchtlingshilfe zu verwalten.“ Das sei ein verbreitetes Missverständnis.
Die Zahl der Ankünfte von Flüchtlingen und Migranten sei wieder gestiegen, bestätigt Cheshirkov: Seit Jahresbeginn sind etwa 20.000 auf den griechischen Inseln angekommen, die Hälfte von ihnen ab Juli. Dennoch sei der UNHCR innerhalb der EU nicht dazu da, Zelte zu stellen, und Schlafsäcke oder Decken zu verteilen. Der UNHCR sorge vielmehr dafür, die Schwächsten unter den Flüchtlingen – Menschen mit Behinderung, Schwangere oder Alleinerziehende mit kleinen Kindern – herauszufiltern, um sie schnellstmöglich aufs Festland zu bringen. Die Entscheidung, wer transportiert werden dürfe, trage aber die griechische Regierung. Der UNHCR sei hauptsächlich zur Informationsvermittlung und Beratung dieser zuständig.
Doch die Aussagen der griechischen Regierung zur Strategie für den Winter sind vage. „Wir arbeiten an einem Plan, der die Flüchtlinge und Migranten auf den Inseln unter bestmöglichen und unter menschenwürdigen Bedingungen unterbringen wird“, sagt ein Sprecher des Migrationsministeriums.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind