Flüchtlinge im Mittelmeerraum: Das neue Tor nach Europa ist Tunesien
Seit den Kämpfen entlang der libyschen Küste steigt die Zahl von Migranten, die die gefährliche Reise über das Mittelmeer von Tunesien aus antreten.
Obwohl Tunesier kaum Chancen auf einen legalen Aufenthaltsstatus in Italien haben, sind in den sozialen Medien immer mehr virtuelle Reisebüros entstanden, die die Organisation der gesamten Reise von tunesischen Provinzstädten bis zu Kontaktleuten in Italien anbieten. In Häfen wie Teboulba südlich von Monastir, Zarzis nahe der Grenze zu Libyen oder der Inselgruppe Kerkena gibt es lange Wartlisten von Reisewilligen. Das berichten Fischer, die auf ihren Booten regelmäßig Migranten transportieren.
Seitdem ein Patrouillenboot der tunesischen Marine vor zwei Wochen vor Zarzis mit einem Flüchtlingsboot kollidierte und mehrere Menschen ertranken, wird nun auch in tunesischen Medien über die größte Flüchtlingswelle seit Jahren diskutiert. Regierungsvertreter bestreiten jedoch, dass es sich um ein landesweites Phänomen handelt, obwohl es aufgrund der rauen Wetterlage auf dem Mittelmeer fast täglich zu Zwischenfällen kommt. Zuletzt kam die Marine einem Fischerboot mit zwölf Migranten zur Hilfe, das bei der Fahrt in Richtung Italien unweit der Kerkena-Inseln ohne Treibstoff in Seenot geraten war.
Die meisten Boote starten aus Südtunesien, weil die Häfen und Strände weniger bewacht sind oder die Grenzbeamten leichter zu bestechen sind, erklärt Wessem Laoud, ein politischer Aktivist aus Tunis.
52 Tote in der vergangenen Woche
52 Tote wurden vergangene Woche in das Habib-Bourghiba-Krankenhaus in Sfax eingeliefert. Die meisten Angehörigen wussten nicht einmal, dass sich ihr Sohn auf den Weg gemacht hatte, berichtet der 43-jährige Sgahier, der in der Antikorruptionsgruppe Manich Msema aktiv ist, nach einer Rundreise durch Tunesiens Süden.
„Ich bin von der Entwicklung nicht überrascht, in den armen Vororten von Tunis ist die Kriminalität durch die Wirtschaftskrise seit dem Sommer sprunghaft gestiegen, nach Umfragen wollen 40 Prozent der jungen Frauen und 60 Prozent der Männer Tunesien verlassen“, fügt Sgahier hinzu.
Mit regelmäßigen Kundgebungen protestieren Gruppen wie Manich Sema gegen die von dem 88-jährigen Presidenten vorgeschlagene Amnestie für Geschäftsleute aus den Zeiten der Diktatur unter Präsident Ben Ali. „Während Korruption unbestraft bleibt und weiter ansteigt, verliert der Kurs des Dibnar rapide an Wert“, ergänzt Sgahier. „Und damit verlieren die Leute den Glauben an eine Perspektive.“
Der italienische Innenminister Marco Minniti sagte vor dem Parlament in Rom vergangene Woche, die Zahl der von Tunesien abfahrenden Boote mit Migranten habe sich verdreifacht, und jene aus Algerien verdoppelt. Auch aus der Türkei sei es zu einem Anstieg der Flüchtlingszahlen um 63 Prozent gekommen, die meisten darunter Minderjährige.
Die meisten tauchen erst mal unter
Die meisten tauchen nach ihrer Ankunft mithilfe von Bekannten und Angehörigen unter und bleiben als illegale Einwanderer in Italien. Italien hat zwar mit Tunesien ein Rückführungsabkommen abgeschlossen, dies sieht aber eine Höchstgrenze der Abschiebung von 30 Personen pro Woche vor.
Seitdem von den libyschen Küstenstädten Sabratha wegen der dortigen Kämpfe zwischen Milizen nur noch wenige Boote ablegen, bieten die dort tätigen Fischer und Schmuggler ihre Routen aus ihren Heimathäfen an. In Teboulba, wo immer noch klassische Holzboote gebaut werden, sehen viele Fischer die Kooperation mit den berüchtigten libyschen Schmugglermilizen kritisch. „Von hier legen seit Jahrzehnten höchsten ein paar Dutzend Boote nach Italien ab, sicher und mit Saisonarbeitern“, sagt ein Fischer. Wenn nun die internationale Schmugglermafia in Tunesien aktiv ist, wird es viele Tote geben.“
In Melassine, einem Armenviertel in Tunis, bieten Schmuggler in Cafés schon Reisetermine für die nächsten Monate an, für weniger als 400 Euro inklusive Bootfahrt. Hier sind über 50 Prozent der unter 30-Jährigen arbeitslos – „nur ein Kilometer von den Ministerien für Arbeit entfernt“, sagt Sgahier, der dort als Sozialarbeiter tätig ist. Er erinnert an Proteste vor dem Parlament im Juli, die Abgeordneten über ein Gesetzespaket zum Schutz von Frauen abstimmten. „Keine Zukunft mit Korruption und der alten Justiz“, stand auf den Schildern.
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