Flüchtlinge aus der Ukraine: Berlin schafft das
2015 versagte die Stadt beim Umgang mit den Geflüchteten. Nun kommen viel mehr Menschen, doch das große Chaos bleibt aus. Woran liegt das?
J ede Krise ist relativ. Ab dem Spätsommer 2015 erreichten täglich bis zu 1.000 Geflüchtete überwiegend aus Syrien und Afghanistan Berlin. Damals wurde das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) an der Moabiter Turmstraße zum Sinnbild überforderter und unwilliger staatlicher Strukturen. Tausende Menschen warteten dort teils tagelang auf ihre Registrierung und Erstversorgung – auch nach Monaten hatte sich die Situation kaum gebessert. Der Begriff „Flüchtlingskrise“ machte die Runde; tatsächlich handelte es sich um eine Verwaltungskrise.
2022 gehört der Begriff „Flüchtlingskrise“ – zumindest bislang – quasi nicht zum Vokabular, um die derzeitige Situation zu beschreiben. Das ist umso überraschender, wenn man einmal die Zahlen vergleicht: Nahm Berlin 2015 insgesamt 55.000 Geflüchtete auf, wird an diesem Wochenende bereits der 100.000. Flüchtling aus der Ukraine in der Stadt ankommen. Innerhalb von zwei Wochen.
Täglich erreichen mehr als ein Dutzend volle Züge aus Polen den Hauptbahnhof, dazu kommen unzählige Busse. 13.000 Menschen jeden Tag. Auch wenn etwa ein Drittel direkt weiterreist, muss die Stadt so viele Menschen versorgen und unterbringen wie nie zuvor.
Von einer „Krise“ ist bislang trotzdem kaum die Rede, die schamvollen Bilder von im Stich gelassenen Menschen sind ausgeblieben. Bislang konnte jeder ankommende Flüchtling mit einem Bett versorgt werden. Zwei Faktoren sind dafür ausschlaggebend: Verbesserte staatliche Strukturen und die riesige Hilfsbereitschaft der Zivilgesellschaft.
Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF), Nachfolgebehörde des Lageso, machte sich umgehend an die Arbeit, die Menschen aus der Ukraine unterzubringen, obwohl es formal gar nicht zuständig war, weil es sich bei ihnen nicht um Asylbewerber:innen handelt. Statt Resignation vermitteln die zuständigen Politiker:innen vor allem die Bereitschaft, alles zu tun, um mit der Herausforderung fertig zu werden. Es gilt wieder: „Wir schaffen das.“
Täglich neue Unterkünfte
Etwa 1.000 Menschen werden täglich durch staatliche Stellen untergebracht. Die 400 Betten im Ankunftszentrum in Reinickendorf waren schnell belegt, doch täglich werden neue Unterkünfte eingerichtet. Bereits am Wochenende soll ein neues Ankunftszentrum im ehemaligen Flughafen Tegel in Betrieb gehen, mit Platz für bis zu 3.000 Menschen. Fünf weitere Groß-Unterkünfte sind am Entstehen. Zur Koordinierung der Unterbringungsmöglichkeiten hat der Senat den ehemaligen THW-Präsidenten Albrecht Broemme eingesetzt, der auch schon die Impfzentren in der Stadt aufgebaut hatte.
Die Stadt würde dem Ansturm dennoch nicht gerecht werden, wenn nicht tausende Helfer:innen und professionell aufgestellte Hilfsstrukturen einen Großteil der Arbeit übernehmen würden. Die meiste Arbeit am Hauptbahnhof leisten Freiwillige. Sie waren schon da, als die ersten Flüchtlinge ankamen und die Strukturen im LAF erst noch hochgefahren werden mussten.
Viel mehr Flüchtlinge haben bislang ihr Bett in privaten Wohnungen und Häusern als in staatlichen Einrichtungen gefunden. So manche Hilfsstruktur, etwa im Festsaal Kreuzberg, beklagt sich darüber, komplett ohne staatliche Unterstützung auskommen zu müssen.
Und dennoch: Angesichts von Zahlen, mit denen noch vor zwei Wochen niemand gerechnet hat, beweist nicht nur die Stadt als ganzes, sondern auch der Senat und das LAF seine Handlungsfähigkeit.
Ein Grund zur Zufriedenheit ist das trotzdem nicht. Niemand kann derzeit sagen, wie lange der riesige Andrang Geflüchteter in Berlin weitergehen wird und wie viele Ressourcen noch mobilisiert werden können. Die Krise ist weiterhin ganz nah.
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