Flüchtling in Pflegefamilie: Der fremde Sohn
Im Februar 2016 nimmt die Familie Bernhardt Juody bei sich auf, einen minderjährigen syrischen Flüchtling. Unsere Autorin hat die Familie seitdem begleitet.
Juody schweigt.
„Wenn die dich was fragen, sprich laut und deutlich“, sagt der Pflegevater.
„Ich bin ganz aufgeregt“, sagt die Pflegemutter. Heute entscheidet das Gericht, ob Juody Asyl bekommt oder nicht.
Christa und Rainer Bernhardt sorgen sich um ihn, ermuntern und tadeln ihn, freuen sich mit ihm und wundern sich über ihn. Wie Eltern das tun mit ihren Kindern. Nur dass Juody nicht ihr leiblicher Sohn ist. Seit gut zwei Jahren versuchen die Bernhardts aus dem schwäbischen Backnang im Kleinen das, was Deutschland im Großen versucht: Integration. Und sie merken Tag für Tag, dass das oft nicht einfach ist.
August 2015
Juody, 16 Jahre alt, schlank, schwarzhaarig, wird am 22. August von einem Lkw in Passau ausgespuckt. Er hat kein Gepäck dabei, kein Handy, nur die Kleider am Körper, Hose, T-Shirt, Turnschuhe und einen Geldbeutel. Tageslicht hatte er zuletzt in Syrien gesehen, dann fast eine Woche nicht mehr. 70 Leute im Laderaum, nur nachts stoppten die Schlepper und öffneten die Hecktür, so wird Juody es später erzählen.
Er kommt über die Balkanroute, wie so viele Flüchtlinge zu dieser Zeit. Mit dem Zug fährt er nach Stuttgart, bei der Polizei werden seine Fingerabdrücke erfasst. Später wird er geröntgt und geimpft, bekommt einen Vormund vom Jugendamt und wird in eine Wohngruppe in Winnenden bei Stuttgart gesteckt. Dort lebt er mit elf anderen jungen Flüchtlingen, darunter ein Kurde wie er. Aber Juody will lieber in eine Familie.
„In Syrien war ich immer gern zu Hause, so was wollte ich wieder“, sagt Juody heute, wenn er auf die vergangenen Jahre zurückblickt und versucht, in Worte zu fassen, wofür er damals in der fremden Sprache noch keine fand.
September 2015
Christa und Rainer Bernhardt sehen Abend für Abend die Kriegsbilder aus Aleppo und Damaskus in den Nachrichten, auf dem Sofa in ihrem geräumigen Einfamilienhaus in Backnang, 30 Kilometer von Stuttgart entfernt. Im Garten steht ein Trampolin, in der Garage ein alter Camper. Christa Bernhardt, 50, betreut als Tagesmutter Kleinkinder, sie ist zupackend, zierlich, die Haare rot gefärbt. Rainer Bernhardt, 64, war mal Fotochef der Lokalzeitung, er trägt Lederweste, einen Gitarrenohrstecker, spielt in einer Rockband. Zusammen sind sie im Camping-Oldie-Club. Syrien kennen sie nur aus dem Fernsehen: zertrümmerte Häuser, schreiende Kinder.
Die Bernhardts sind keine Merkel-Anhänger, aber sie finden, dass die Kanzlerin recht hat, wenn sie sagt: „Wir schaffen das.“ Eine Bekannte erzählt, dass sie einen jungen Syrer bei sich aufnehmen wird, und fragt, ob das nicht auch etwas für sie sei. „Warum eigentlich nicht?“, sagt Rainer Bernhardt. Ein Zimmer ist frei, Rainer Bernhardt ist in Frührente, die Kinder sind groß. Sarina, 21, studiert in einer anderen Stadt, Leonie, 19, reist gerade durch Neuseeland, und Patrick, 14, hat nichts dagegen.
Januar 2016
Das Jugendamt ruft bei Familie Bernhardt an. Es gäbe da jemanden, der zu ihnen kommen könnte: Juody, 16, aus Syrien. Die Bernhardts treffen ihn einmal in seiner Wohngruppe, einmal bei sich zu Hause. Der Junge ist still, höflich. Seine Augen halten nur kurz Blickkontakt. Soll das ihr Pflegesohn werden? Die Bernhardts sagen ja, Juody sagt ja. Die Kölner Silvesternacht, die die Diskussion angeheizt hat, ob mit den Flüchtlingen auch Gewalt ins Land kommt, ist gerade zwei Wochen her. „Klar ist das ein kleines Wagnis für uns“, sagt Rainer Bernhardt.
„Sie sahen nett aus, ich dachte, das sind gute Leute. Hauptsache eine Familie.“
Februar 2016
Juody, inzwischen 17, bekommt das Zimmer neben Patrick. Bunte Wände, Schreibtisch, Bett und Schrank. Die Pflegeeltern fragen ihn, ob sie ihm zeigen sollen, in welcher Richtung Mekka liegt. Juody sagt, er sei nicht so gläubig. In einem grünen Ordner sammeln die Bernhardts alle Unterlagen vom Amt.
„Ich will zurück in die Wohngruppe“, sagt Juody nach wenigen Tagen. In seinem Zimmer hat er ein Foto von den ehemaligen Mitbewohnern aufgehängt. Die Pflegeeltern schlagen vor, dass er Freunde einlädt. Juody nickt. Aber es kommt keiner. Eine unsichtbare Wand steht zwischen ihnen und dem neuen Sohn, so empfinden sie es.
Juody über das erste Treffen
Wer ist der Junge, der da am Esstisch sitzt? Nach dem Deutschkurs zieht er sich schnell in sein Zimmer zurück, erzählt nichts von seiner Flucht, kaum von seiner Familie. Kümmern sie sich nicht genug? Oder zu viel? Ist er traumatisiert? „Wir hatten uns das viel einfacher vorgestellt“, sagt Rainer Bernhardt.
„Alles war anders, alle haben Deutsch gesprochen. Ich habe mich einsam gefühlt. Sie waren nett, aber ich hatte Angst, etwas falsch zu machen.“
Die Bernhardts suchen Rat bei Juodys früheren Betreuern und seinem Vormund. Geduld, empfehlen alle. Juody bleibt. Er hat es gut: Er hat ein eigenes Zimmer mit Balkon, wird bekocht, darf sogar rauchen. „Patrick würde ich das nicht erlauben“, sagt Christa Bernhardt.
„In Syrien habe ich mir ein Zimmer mit meinem Bruder geteilt. Und rauchen hätte meine Mutter nie erlaubt.“
Juody bekommt sogar „diese Turnschuhe mit dem X“, wie Rainer Bernhardt sagt. Airmax, für 130 Euro. Weil Juody sie unbedingt wollte. Er achtet sehr auf sein Äußeres, geht ständig zum Friseur. „Ich glaube, das ist in den arabischen Ländern wichtiger als bei uns“, sagt Rainer Bernhardt. Sie fragen Patrick, ob er auch diese Airmax will. „Nö, die für 30 Euro reichen doch“, sagt Patrick. Er ist nicht eifersüchtig auf den Neuen. Besonders viel miteinander anfangen können sie aber auch nicht.
Beim Mittagessen gibt Juody Salat aus, nach den Mahlzeiten räumt er den Tisch ab, so wie er das aus der Wohngruppe kennt. „Aber er schwätzt halt nix“, sagt Christa Bernhardt.
April 2016
Es ist der erste Frühlingstag, Rainer Bernhardt wirft den Grill an, er legt Juody ein Steak auf den Teller. Rind, kein Schwein. Doch Juody rührt es nicht an. Alle beginnen zu essen, nur er nicht. „Du kannst ruhig anfangen“, sagt Christa Bernhardt. „Bei uns muss man nicht warten, bis das Familienoberhaupt am Tisch sitzt.“ Juody lächelt, wartet aber, bis Rainer Bernhardt sich setzt. „In Syrien ist das halt anders“, sagt Christa Bernhardt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
„Ich weiß jetzt, dass das hier nicht so ist. Aber ich warte trotzdem. Das ist höflich.“
Juody ist jetzt seit zwei Monaten bei den Bernhardts. Er sagt „Hallo“, wenn er kommt, „Tschüss“, wenn er geht. Auch wenn er nicht so recht versteht, warum er das soll.
„Musstest du das zu Hause nicht?“, fragt Christa Bernhardt.
„Nö.“
„Bist du einfach in die Stadt gegangen, wenn du wolltest?“
„Ja, mit dem Motorrad.“
„Mit dem Motorrad? Mit 16?“
„Ja, auch vorher.“
„Und deine Schwester, durfte die das?“, fragt Rainer Bernhardt.
Juody lacht. „Nein. Nur mit mir oder meinem Vater.“
Mai 2016
Rainer Bernhardt fällt auf, dass sie ihren Pflegesohn noch nie berührt haben. Mehr als ein Handschlag war da nicht. „Wir würden ihn gern mal in den Arm nehmen oder so knuffen“, sagt er. „Aber ich weiß nicht, ob er das mag und ob man das in seiner Kultur macht.“
„Das wäre schön gewesen. Aber ich habe mich nicht getraut.“
Juody lädt ein neues Profilbild in Whatsapp hoch. Es zeigt ein Handgelenk mit aufgeschlitzten Pulsadern. Der Status: „Ich vermisse meine Mama.“ Juody kommt nicht mehr aus seinem Zimmer. Christa Bernhardt fragt, ob sie helfen könnten. Juody sagt nur, er wolle zurück nach Syrien. Lieber sterbe er im Krieg, als hier nur zu warten.
„Ich habe meine Familie vermisst. Und ich hatte immer noch keine Antwort auf meinen Asylantrag, nach fast einem Jahr. Ständig haben mich alle gefragt, ob ich meine Familie nachholen will. Aber ich hab gleich gesagt, ich will nicht. Die Deutschen denken das immer, wenn jemand kommt, der noch nicht 18 ist. Bei dem Profilbild hab ich mir nichts gedacht. Aber Christa hat sich Sorgen gemacht. Sie kam in mein Zimmer, hat mich in den Arm genommen und geweint. So wie ich. Es tat mir leid, ich hab das Profilbild sofort geändert.“
„Wir sind doch kein Hotel, sondern eine Familie“, sagt Christa Bernhardt später, als sie davon erzählt. Zum ersten Mal hat sie in diesen Tagen Momente, in denen sie bereut, Juody aufgenommen zu haben. Rainer Bernhardt ruft Refugio an, einen Verein, der Flüchtlinge psychologisch betreut. Seit Monaten steht Juody auf der Warteliste, jetzt bekommt er sofort einen Termin.
„Die von Refugio haben gefragt, was in Syrien war und so. Das hat mir gar nicht geholfen. Ich bin da nur hingegangen, weil Christa und Rainer es wollten.“
Rainer Bernhardt
Hilfe kommt von anderer Seite. Das erste Mal, seit Juody bei den Bernhardts wohnt, kann er mit seinen Eltern telefonieren. Es gehe ihnen gut, doch sie haben Angst, dass auch ihre Stadt beschossen werde. Seine Mutter redet Juody ins Gewissen. 5.000 Dollar haben sie dem Schleuser bezahlt, damit er ihren Sohn nach Deutschland bringt und der dort etwas lernt. Der Vater verdient als Elektriker 200 Dollar im Monat, die Familie hat vier Kinder. Juody bleibt.
„Danach wollte ich nie wieder zurück.“
In den Pfingstferien wollten die Pflegeeltern eigentlich mit Patrick und Juody nach Italien fahren, aber Juody darf das Land nicht verlassen, solange sein Asylantrag noch läuft. Also geht es mit dem Camper an den Bodensee. Normalerweise schläft die ganze Familie darin.
„Ich habe lieber im Zelt geschlafen. Ich war ja noch ganz neu in der deutschen Familie.“
An einem Sonntag nach den Ferien sitzt die Familie auf der Veranda. Juody und Sarina, blonde Haare, Sommersprossen, beugen sich über einen Laptop. Juody zoomt auf Google Maps an den nordöstlichsten Zipfel Syriens heran, doch seine Heimatstadt ist zu klein, um verzeichnet zu sein.
„Können wir nicht mal mit deinen Eltern telefonieren?“, fragt Christa Bernhardt.
„Nein, sie sprechen kein Deutsch und kein Englisch.“
„Hast du ein Foto von ihnen?“
„Nein.“
„Willst du ihnen eins von uns schicken?“, fragt Rainer Bernhardt. „Dann können die mal sehen, bei was für Vögeln du jetzt wohnst.“
„Haben sie nie danach gefragt?“, will Christa Bernhardt wissen.
„Doch.“
„Aber?“
„Weiß nicht.“ Vielleicht will er seine Eltern nicht verletzen, vermuten die Bernhardts. Juody hat Tränen in den Augen.
Im Deutschkurs lernt er diszipliniert. Bei der ersten Prüfung war er der Beste, darauf sind die Pflegeeltern stolz. Besteht er auch die zweite, kann er in einer Flüchtlingsklasse seinen Hauptschulabschluss machen. „Ich weiß aber nicht, ob er nicht zu gut dafür ist“, sagt Christa Bernhardt. Sie glaubt, dass er ein guter Schüler war in Syrien, auch wenn sie nur einen Papierstreifen mit arabischen Schriftzeichen von ihm hat, der sich später als eher mittelmäßiges Zeugnis herausstellen wird.
Juni 2016
Die meisten Bekannten haben mitbekommen, dass bei den Bernhardts ein Flüchtling wohnt. „Bist du einer von diesen Gutmenschen?“, fragt einer. „Pass bloß auf, dass das nicht so ein Schläfer ist“, warnt ein anderer. Den lädt Rainer Bernhardt nicht mehr zum Geburtstag ein. Sonst, sagt er, hätten die meisten positiv reagiert. Wie der Nachbar, der fragt, ob Juody in seiner Sportgruppe mitmachen will. Juody will – und Rainer Bernhardt kommt mit. Obwohl er sonst nie Sport macht. Seither gehen sie jeden Mittwochabend zusammen schwitzen.
Vor der Sporthalle treffen sie auf die anderen: der Nachbar, ein Rentner, sein Sohn, eine Abiturientin und zwei Syrer. Die Truppe joggt zum Waldheim hoch, Juody leichtfüßig vorneweg, Rainer Bernhardt schnaufend hinterher. Danach geht’s in die Halle, zum Basketball. Gemischte Teams, deutsch-syrisch. Es wird gerempelt, gerangelt, gezupft. Als Juody angreift, überlässt Rainer Bernhardt ihm den Ball. „Yalla!“ – „Achtung!“, rufen die Mitspieler. Juody trifft den Korb und lacht, so laut wie sonst nie.
In der anderen Hallenhälfte trainieren Cheerleader in knappen Höschen. „Am Anfang haben sich die Syrer gar nicht getraut, den Ball zu holen, wenn er rübergeflogen ist“, erzählt der Nachbar. „Jetzt spicken sie manchmal.“
„Als ich nach Deutschland kam, war ich schon ein bisschen schockiert, was die Frauen anhaben. Es war ja Sommer. Aber jetzt ist es normal für mich.“
Die deutschen Männer schlendern in die Kabine, ziehen sich aus. Die Syrer schnappen ihre Turnbeutel und gehen aus der Halle. „Mit uns zu duschen trauen sie sich nicht“, sagt der Nachbar.
Seit Kurzem hat Juody eine Freundin, 14 Jahre alt, türkischer Herkunft. Die Pflegeeltern werden hellhörig. Nicht dass der türkische Vater plötzlich vor der Tür steht. Doch sie freuen sich auch, dass Juody es erzählt hat. Rainer Bernhardt spricht mit Juody über Mädchen, Sex und solche Sachen – von Mann zu Mann. Er fragt ihn, ob er weiß, wie man verhütet. Juody reagiert gelassen. Ja, er wüsste Bescheid.
„Das war mir nicht peinlich. In Syrien hätte eher meine Mutter mit mir darüber gesprochen, aber hier ist das anders herum.“
Juli 2016
Im 140 Kilometer entfernten Ochsenfurt bei Würzburg hat ein junger Flüchtling eine Familie in einem Regionalzug mit einem Messer attackiert und eine Spaziergängerin mit einer Axt angegriffen. Der Täter, angeblich 17, lebte in einer deutschen Pflegefamilie. Plötzlich ist Würzburg in Backnang. „Da musste ich schon schlucken“, sagt Christa Bernhardt. „Ich könnte nicht zu 100 Prozent sagen: ‚So was würde Juody nie tun.‘ Dafür kenn ich ihn zu wenig.“
„Man muss immer mit allem rechnen“, sagt Rainer Bernhardt. „Wir wissen oft nicht, wo er ist.“
„Rainer hat mir davon erzählt. Wie kann man so etwas tun?“ Juody tippt sich an die Stirn. „Aber ich verstehe nicht: Was hat das mit mir zu tun, nur weil ich auch ein Flüchtlinge bin?“ Juody sagt immer „Flüchtlinge“, auch wenn er den Singular meint. Als gäbe es die Zugewanderten nur als Masse.
Juodys Profilbild bei Whatsapp zeigt zu dieser Zeit einen Mann, auf dessen Rücken steht: „Ich habe nur Angst vor Allah.“ Die Bernhardts stutzen: Hat er nicht gesagt, er sei nicht so religiös? Sie erklären ihm, dass die Polizei da schnell hellhörig wird.
„Wir haben ständig solche Profilbilder in Syrien, und keiner sagt was. Aber in Deutschland fragen alle, was das soll. Als ich noch in der Wohngruppe gewohnt habe, hatte ich mal ein Foto von einem Autoschlüssel in Facebook. Am nächsten Tag in der Schule kommt die Lehrerin zu mir und sagt: ‚Jetzt kommt die Polizei.‘ Die Polizisten haben mich gefragt: ‚Woher hast du die Autoschlüssel?‘ Ich hab gesagt: ‚Ich hab keine, das Bild ist aus dem Internet.‘ Sie haben viele Fragen gestellt, zwei Seiten vollgeschrieben und mein Zimmer in der Wohngruppe durchsucht. Zu der Zeit gab es in Paris Leute, die gebombt haben. Ich weiß nicht, ob das damit zu tun hatte.“
„Vielleicht hat er sich ja wirklich nichts dabei gedacht“, sagt Rainer Bernhardt später.
„Aber komisch ist es schon“, sagt Christa Bernhardt.
Juody über ihre Beziehung
Manchmal muss Rainer Bernhardt nun wieder an Merkels Satz aus dem Sommer 2015 denken: „Wir schaffen das.“ „Bei uns müsste es eher heißen: ‚Wir arbeiten daran‘ “, sagt er. Rainer Bernhardt spricht gern über das große Ganze. Politik und Integration. Christa Bernhardt beschäftigt das Kleine. Schulnoten, Zahnarzttermine, Juodys Rolle in der Familie.
Zwei Tage nach dem Würzburger Attentat geht Christa Bernhardt zum monatlichen Elternabend für Pflegeeltern. In einem kleinen Raum am Rande von Winnenden haben sich zwei Dutzend Menschen versammelt, Paare mittleren Alters. Apfelsaft auf dem Tisch, die Luft steht. Ein Mann vom Jugendamt spricht darüber, was die Pflegeeltern dürfen und wo es den Vormund braucht. Auf viele Fragen weiß er keine Antwort.
Die Pflegeeltern wollen sich vor allem austauschen. Jeder erzählt von „seinem“ – das Wort „Flüchtling“ lassen sie weg. Ein Pflegesohn hat aus Wut einen Mülleimer zertrümmert. Ein anderer isst nichts mehr. Eine Frau, die gleich drei Jungen aufgenommen hat, lässt nebenbei fallen, dass einer Mama zu ihr sage. Christa Bernhardt sagt leise: „Das sagt Juody nie, meistens sagt er: du. Oder gar nix.“
Dann spricht eine Pflegemutter an, worauf alle gewartet haben: „Wie kann ich erkennen, ob sich meiner radikalisiert? Kann ich in sein Zimmer gehen und schauen, ob da so eine IS-Flagge rumliegt?“ Alle reden durcheinander.
„Also wir haben uns gleich mit ihm zusammengesetzt.“
„Wir haben andere Probleme.“
„Ich würde es merken.“
„Bei dem in Würzburg hat man’s ja auch nicht gemerkt.“
Der Mann vom Jugendamt weist noch auf eine Hotline vom Staatsschutz hin, „die aber eigentlich für andere Fälle gedacht ist“. Keine Familie will sich von ihrem Flüchtling trennen. Ein leises Misstrauen aber bleibt. „Wir sind nicht ganz an ihm dran“, sagt Christa Bernhardt auf der Rückfahrt.
September 2016
Rainer Bernhardt feiert seinen „Rentner-Geburtstag“ im Garten. Teelichter, Grillfleisch, die Rockband spielt Blues. Juody holt sich und seinem Tischnachbarn ein Bier und fragt, ob er anfangen darf, zu essen. Er raucht und trinkt erst, seit er in Deutschland ist. Seine Eltern wüssten nichts davon, sie ahnten es nur, sagt er und grinst. Leonie, die aus Neuseeland zurück ist, singt einen Song mit der Band. Rainer Bernhardt jodelt zum Spaß ins Mikrofon, Juody muss laut lachen. Dann erzählt er, dass er mit seiner Freundin Schluss gemacht hat. „Sie hat Haschisch geraucht und behauptet: Nein, macht sie nicht.“
Noch vor einem Monat wäre es undenkbar gewesen, dass er so offen spricht. Inzwischen lacht er öfter und schaut einem in die Augen.
„Wo ist meine Chrischda?“, ruft Rainer Bernhardt ins Mikrofon. Sie dreht sich verwundert um. „Das ist für dich“, sagt er und stimmt „You are always on my mind“ an. „Das hat er noch nie für mich gesungen“, sagt Christa Bernhardt gerührt. Juody klatscht und ruft: „Habibi!“ – Schatz.
„Ich mag eigentlich keine Gitarre und so Musik, die Rainer spielt. Ich hör lieber Rap und Hip-Hop. Aber das war schön.“
Wenige Tage vorher war der Vormund zu Besuch und nannte den Termin für Juodys Anhörung. „Endlich“, sagte Juody. Der Vormund fragte, zu wie viel Prozent er sich zu Familie Bernhardt zugehörig fühle. „85“, sagte Juody sofort. „Ich hatte Tränen in den Augen“, sagt Christa Bernhardt.
„Das hab ich nicht nur gesagt, um ihnen eine Freude zu machen. Das war echt so.“
November 2016
Mitte des Monats kommt die Nachricht, dass Juodys Asylantrag abgelehnt wurde. Er bekommt nur ein Jahr subsidiären Schutz. Ihm drohe keine unmittelbare Verfolgung in Syrien. Die Pflegeeltern reichen dagegen Klage ein. Wie viel sie der Anwalt kosten wird, wissen sie nicht. „Abenteuer sind halt teuer“, sagt Rainer Bernhardt. „Und das ist jetzt ein kleines Abenteuer für uns.“
Dezember 2016
In Freiburg wurde vor zwei Monaten die Leiche einer Studentin gefunden, vergewaltigt und ermordet. Jetzt gibt es einen Tatverdächtigen: Es ist ein Afghane, angeblich 17, der als Flüchtling in einer Pflegefamilie lebte. „Da ist mir gleich durch den Kopf geschossen: Was hätte Juody gemacht in so einer Situation?“, sagt Rainer Bernhardt. „Und ich wusste sofort: Er würde so was nie tun. Nicht unser Juody.“
„Ein Flüchtlinge macht so was, und wieder heißt es, alle Flüchtlinge sind so. Das regt mich auf. Ich habe im Radio gehört, dass ein Flüchtlinge in einem Freibad was gemacht hat mit einem Mädchen. Danach bin ich nicht mehr ins Freibad gegangen.“
Januar 2017
In zwei Wochen wird Juody 18. Er könnte dann ausziehen und bekäme direkt vom Amt Geld. Die Pflegeeltern haben bisher monatlich eine Anerkennung von 269 Euro und einen Zuschuss für Unterkunft, Essen und Kleider erhalten. Rund 1.000 Euro insgesamt. Juody könnte auch bei den Bernhardts bleiben, bis er 21 ist. Das zuständige Jugendamt würde auf Antrag weiterhin zahlen. Juody will bleiben. Die Bernhardts wollen ihn behalten.
August 2017
Juody arbeitet in den Ferien auf dem Bau, sechs Tage die Woche, sechs Wochen lang – für den Führerschein. Ein Bekannter der Bernhardts hat ein Bauunternehmen. Das Geld gibt Juody den Pflegeeltern, sie sollen es aufbewahren, damit er nicht gleich alles ausgibt. „Ich fand schön, dass er uns das anvertraut“, sagt Christa Bernhardt.
November 2017
Der grüne Ordner mit Juodys Unterlagen ist inzwischen voll. Morgens macht Juody sich und seiner Pflegemutter Kaffee, bevor er in die Flüchtlingsklasse geht. Nachmittags hängt er mit Freunden in der Stadt herum, in der Shishabar, beim Dönerladen. Die Pflegeeltern organisieren Praktikumsplätze für ihn und erinnern ihn, jeden Tag eine deutsche Vokabel zu lernen.
„Aber er redet immer noch nicht viel“, sagt Christa Bernhardt, während sie den Tisch deckt. Juody ist noch in der Schule, Patrick und Leonie lümmeln auf dem Sofa herum. „Und er sagt immer noch nicht Christa zu mir.“ Patrick ruft: „Bei mir regst du dich immer auf, wenn ich Christa sage.“ Patrick und Juody sind noch immer keine dicken Freunde. Aber manchmal so etwas wie stille Verbündete. „Lass ihn doch“, sagt Patrick, wenn seine seine Mutter Juody fragt, wie es in der Schule war.
Juody hat eine neue Freundin, 17, aus Ungarn. „Ich glaub, die tut ihm gut“, sagt Rainer Bernhardt. „Wenigstens redet er dann Deutsch“, sagt Christa Bernhardt. Bevor die Freundin erstmals über Nacht bleiben durfte, hat Juody die Pflegeeltern über Whatsapp gefragt, ob das okay sei. Dass er sie mit nach Hause bringt, freut die Bernhardts.
Und trotzdem: „Er ist nicht ganz in der Familie“, sagt Leonie. „Er sitzt immer mit ganz geradem Rücken auf dem Sofa, wenn wir fernsehen.“
Juody kommt heim von der Schule und teilt den Salat aus. Bald macht er den Hauptschulabschluss, dann will er eine Ausbildung machen. Ein Angebot hat er schon: eine Maurerlehre.
„Christa sagt immer, ich soll lernen. In Europa sind die Frauen strenger. Das nervt zwar, aber ich finde es auch gut. Nach der Schule sagt sie: ‚Komm, wir lesen zusammen was.‘ Ich habe keinen Bock, aber ich sage: ‚Ja okay‘, und lese ihr aus ‚Tschick‘ vor.“
Am Abend fährt Christa Bernhardt nach Winnenden, die Pflegeeltern aus dem Umkreis treffen sich in einer Pizzeria. 15 Leute, hauptsächlich Frauen. Sie haben ihre eigene Sprache: UMF, IB, VABO, AV-Dual. Es geht um Khaled, Mahmud, Abdullah und deren Zukunft. Bei welcher Ausbildung hat man viel Praxis und wenig Theorie? Die Frau mit den drei Pflegesöhnen, von denen einer „Mama“ sagte, kommt schon länger nicht mehr. Einen hat sie inzwischen abgegeben. 26 minderjährige Flüchtlinge lebten im Umkreis vor einem Jahr in Pflegefamilien, jetzt sind es noch 14.
März 2018
Verwaltungsgericht Stuttgart, Saal drei, ein karger Raum. Der Anwalt ist schon da. Juodys Fall ist für ihn Routine, 800 Asylfälle hat er bereits verhandelt. „Wie ist das mit den Kosten“, fragt Christa Bernhardt. „Muss der Gegner zahlen, der verliert ja“, sagt der Anwalt, den ihnen eine Bekannte kurzfristig vermittelt hat. Rainer und Christa Bernhardt schauen sich verdutzt an. Ihre erste Anwältin hatte gesagt, sie hätten keine Chance.
Kaum hat die Verhandlung begonnen, sagt die Richterin: „Sie können noch lange plädieren, aber ich denke, das können wir uns sparen.“ „Ich denke auch“, sagt der Anwalt. Christa Bernhardt hebt erstaunt den Kopf. Juody grinst. Elf Minuten nachdem die Verhandlung begonnen hat, ist sie schon wieder beendet. Juody bekommt Asyl, weil er noch im wehrpflichtigen Alter ist. Mindestens drei Jahre darf er nun in Deutschland bleiben. Rainer Bernhardt klopft Juody auf die Schulter – und Christa Bernhardt drückt ihn an sich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht