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Flucht vordem Töten

Tausende Männer aus Russland haben in Deutschland Asyl beantragt, weil sie den Kriegsdienst verweigern. Gewährt wird es aber nur den wenigsten, obwohl daheim die Einberufung droht

„Schließ dich den eigenen an“, steht auf einer Werbetafel in Sankt Petersburg. Der Kreml rekrutiert Freiwillige für den Kriegseinsatz gegen die Ukraine Foto: Foto:Bernd Hartung/ostkreuz archiv

Von Maria Mitrov

Ilja Jaschin ist auf Tour. Der russische Regimekritiker fährt deutschlandweit von Stadt zu Stadt, um mit Menschen aus der postsowjetischen Community zu diskutieren. Über den Krieg in der Ukraine, die zerstreute – und zerstrittene – Exilopposition. Und natürlich auch über Putin.

An diesem Abend Ende Februar drängen sich etwa 150 Leute in den Gemeindesaal der Nürnberger Lorenzkirche. Es sind Junge und Alte, viele sind erst seit dem Krieg hier, einige leben schon seit Jahrzehnten in Deutschland. Kurz vor dem Ende der Diskussion steht ein junger Mann auf. Er erzählt, dass er seit zwei Jahren in Bayern lebt, dass sein Asylantrag aber abgelehnt worden sei, obwohl er gegen diesen Krieg ist und vor ihm geflohen ist. Und dass er so viele Russen kennt, denen das Gleiche passiert ist.

Nach der Veranstaltung reden Jaschin und der Mann zu zweit miteinander. Später wird der junge Russe sagen, dass der Oppositionelle ihm aufmerksam zugehört habe, aber wirklich helfen könne er ihm natürlich nicht. Das könnte nur der deutsche Staat. Doch der scheint sich nicht wirklich mit dem Problem befassen zu wollen.

6.300 Asylanträge haben russische Männer im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 30 Jahren seit Beginn des Kriegs gestellt. Nur 349 von ihnen haben bislang Asyl erhalten. Es ist eine sehr kleine Zahl im Vergleich zu den sehr großen Worten, die deutsche Politiker nach dem 24. Februar 2022 aussprachen. In dem Bundestagsbeschluss zur Unterstützung der Ukrai­ne wurden russische Soldaten aufgefordert, den Kampf zu verweigern und nach Deutschland zu fliehen – mit dem Hinweis auf mögliches Asyl in der Bundesrepublik. Im Herbst 2022 wiederholten der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundesinnenministerin Nancy Faeser dieses Angebot.

Doch nach fast dreieinhalb Jahren gibt es immer noch kein wirkliches Verfahren, um russische Deserteure aufzunehmen. Männer, die bereits vor dem Einzug in die Armee geflohen sind, haben noch schlechtere Chancen auf Asyl. Die Folge: Tausende von ihnen leben teilweise seit Jahren in Deutschland. Ihre Zukunft ist ungewiss und sie leben in Angst vor einer möglichen Abschiebung.

Da­niil ist einer von ihnen. Der 30-Jährige ist der Mann, der Ilja Jaschin von genau diesem Problem erzählt hat. Ende März sitzt er in einem Café im beschaulichen Kulmbach, 110 Kilometer nördlich von Nürnberg gelegen. Er wundert sich, dass so viele Leute an einem Montagmittag einfach Kaffee trinken. „Müssen die nicht arbeiten?“ Er lacht. Er selbst hat heute frei.

Eigentlich heißt Da­niil anders, aber er fürchtet sich davor, seinen echten Namen zu veröffentlichen. Er hat noch Familie in Russland. Aber er möchte seine Geschichte erzählen. Er wird drei Stunden lang sprechen und nur ein einziges Mal eine kurze Pause machen.

Da­niil lebt seit über zwei Jahren in Kulmbach. Er ist nicht nur vor dem Krieg geflohen, sondern auch vor dem Regime. Schon Jahre vor seiner Flucht war er politisch aktiv und kritisierte öffentlich die Politik. 2016 fanden in seinem Heimatdorf nahe der südlichen Großstadt Krasnodar Kommunalwahlen statt. „Ein Freund von mir hatte die Idee, am Wahltag T-Shirts zu tragen, auf denen kritische Parolen über das Regime gedruckt wurden.“ Da­niil habe sich gefürchtet, die möglichen Risiken erahnt. „Aber mein Wunsch, meine Meinung zu äußern, war stärker.“ Die beiden Männer seien von der Polizei festgenommen worden, Passanten hätten ihnen ins Gesicht gespuckt. „Damit fing der Ärger an.“

Die beiden wurden wieder freigelassen. Da­niils Freund wurde jedoch von da an ständig von der Polizei beobachtet. Da­niil selbst erhielt ein Ultimatum: „Entweder du gehst zur Armee oder du wirst in Zukunft große Pro­ble­me bekommen.“ Ein Jahr lang steckte Da­niil im tiefsten Ural fest, aber die erhoffte Gehirnwäsche verlief bei ihm erfolglos. Nach seinem Dienst nahm er weiter an Demos und Protestaktionen teil, etwa 2021 nach Alexei Nawalnys Verhaftung. Wirkliche Konsequenzen konnte Da­niil vermeiden: „Damals ließ Putin noch kleine Freiheiten und Veränderungen zu.“

Da­niil dachte nicht oft an seine Zeit bei der Armee. Er vergaß auch, dass er nach seinem Dienst einen kleinen Vermerk in den Wehrpass erhalten hatte. Nur ein paar Sätze – die unter anderem der Grund dafür sind, weshalb er heute in Deutschland lebt. „Nach dem Dienst musste ich mich beim Militärkommissariat melden. Als die Offiziere meine Unterlagen sahen, sagten sie: ‚Du hast ein höheres Dienstniveau, du bist Akademiker. Lass uns in deinem Wehrpass vermerken, dass du im Falle einer Mobilisierung sofort eingezogen und dich um die Mobilisierung der Soldaten hier vor Ort kümmern wirst.‘ “ Er habe damals sein Einverständnis gegeben und gelacht: „Seid ihr verrückt? Mit wem sollen wir denn einen Krieg anfangen? Mit Außerirdischen?“

Knapp fünf Jahre später griff Russland die Ukraine an. Da­niil erfuhr es am frühen Morgen des 24. Februar 2022, als er rund 2.000 Nachrichten in der Telegram-Gruppe seiner Freunde fand. „Ich fragte sie, was passiert sei, und sie antworteten: Der Krieg ist ausgebrochen.“ Auch Jahre später ist Da­niil immer noch der Schock darüber anzumerken. Er sagt, die nächsten sechs Monate nach diesem Tag habe er überhaupt nicht mehr in Erinnerung. Er habe ununterbrochen die Nachrichten verfolgt, sich wie viele seiner Freunde vor Fassungslosigkeit zu Hause verschanzt und gleichzeitig immer wieder erlebt, wie nicht wenige Landsleute den Krieg feier­ten. Mit einigen nahestehenden Menschen habe er aus diesem Grund den Kontakt abbrechen müssen. „Seelisch war ich völlig deprimiert.“

Im April sei er nach langer Zeit wieder in seiner alten Wohnung in Krasnodar gewesen. Im Briefkasten habe er ein Schreiben des Militärkommissariats gefunden, datiert vom 24. Februar: Er solle sich sofort dort melden und seine neue Adresse hinterlassen. Da­niil wurde panisch, tauchte nicht mehr in der Wohnung auf.

Als die Mobilisierung am 21. September verkündet wurde, schaute Da­niil nach all den Jahren wieder in seinen Wehrpass – und fand darin den längst vergessenen Vermerk. „Dort stand, dass ich mich im Falle einer Mobilisierung innerhalb von zwei Tagen beim Militärkommissariat melden muss.“ Er bekam Angst und dachte: „Wenn mich ein Polizist anhält und meinen Wehrpass kontrolliert, dann werde ich sofort an die Front geschickt.“

Ab diesem Moment tickte für Da­niil die Uhr: „Ich habe nur an eines gedacht: dass ich 48 Stunden Zeit habe, um das Land zu verlassen.“ Keine Sekunde lang habe er gezögert, zu fliehen, gemeinsam mit einem Bekannten. Nach der Arbeit packte Da­niil innerhalb einer Dreiviertelstunde einige Sachen zusammen, schnappte sich seinen Reisepass. Er fuhr zu seiner Familie, klingelte sie gegen 2 Uhr nachts aus dem Schlaf und sprach nur fünf Minuten mit ihr. „Ich sagte, dass alles in Ordnung sei und ich bald zurückkäme. Ich wollte nicht die Wahrheit sagen, denn sonst hätten sie mich überredet zu bleiben.“ Seit dieser Nacht hat Da­niil seine Familie kein einziges Mal mehr gesehen.

Seit Kriegsbeginn 2022 haben schätzungsweise zwischen 600.000 und 1 Million Russen ihre Heimat verlassen, ein großer Teil davon sind junge Männer. In den ersten Tagen der Mobilisierung flohen besonders viele von ihnen. Nach Armenien, Kasachstan, Kirgistan. Und Georgien.

Da­niil und sein Bekannter hatten keinen Plan. Sie gaben „Tiflis“ ins Navi ein und fuhren los. Als sie in Wladikawkas, einer Stadt nahe der georgischen Grenze, ankamen, war bereits der nächste Tag angebrochen. Sie gerieten in einen Stau. „Die Polizei hielt alle Autos mit ortsfremden Nummernschildern an und fragten die Insassen, wo sie hinwollten.“ Auf die Schnelle sei Da­niil nur eine angebliche Hochzeit eines Freundes eingefallen. „Der Polizist antwortete: Ja, ja, heute fahren sie alle zu einer Hochzeit.“ Er forderte Da­niil auf, umzudrehen und wegzufahren. Mit ihm diskutieren wollte Da­niil nicht: „An diesem Tag war alles chaotisch, es herrschte eine Art Gesetzlosigkeit.“

Die beiden Männer lernten dann zufällig einen Taxifahrer kennen, der gegen viel Geld versprach, die zwei an die Grenze zu bringen. Auch dieses Mal wurden sie von der Polizei aufgefordert, wegzufahren. „Ich stand unter so viel Stress. Ich war schon bereit, aufzugeben.“ Doch dann schlug der Taxifahrer eine andere, weniger befahrene Route vor. Gegen 1 Uhr nachts überquerten Da­niil und sein Bekannter endlich die Grenze.

In Georgien traf Da­niil andere Bekannte. Sie hatten zu dem Zeitpunkt eine Telegram-Gruppe mit etwa 300 Mitgliedern, in der sie über mögliche Fluchtwege nach Georgien informierten. Da­niil teilte seine Route und die Telefonnummer des Taxifahrers, verbrachte die ersten Tage ausschließlich damit, mit Menschen zu chatten, die noch auf der Flucht waren. „Wir haben mindestens zehn Menschen zur Flucht verholfen. Nach einiger Zeit konnten wir das allerdings nicht mehr tun, weil wir keine aktuellen Daten und Routen mehr hatten.“

Stattdessen begannen sie damit, in der Gruppe über kriegsbezogene Fake News aufzuklären. Es dauerte nicht lange, bis Da­niil von seinem Cousin, der noch in Da­niils Heimatstadt lebte, die Nachricht erhielt, dass örtliche Behörden und sogar der FSB sich für Da­niil interessieren würden. Seine Familie wurde von der Polizei aufgesucht. „Sie sagte, dass ich nach meiner Rückkehr strafrechtlich verfolgt werden würde.“ Da­niils Vater habe gesagt: „Denk an uns, wir werden uns für dich verantworten müssen.“ Gleichzeitig habe er immer mehr hasserfüllte und drohende Kommentare auf Social Media erhalten. Ein Mann habe sogar geschrieben, dass er Anzeige gegen Da­niil erstattet habe. Da­niil schränkte den Kontakt zu seiner Familie ein, um sie zu schützen. Und erkannte, dass er in Russlands Nachbarland nicht mehr sicher war.

„Ich habe nur an eines gedacht: dass ich 48 Stunden Zeit habe, um das Land zu verlassen“

Kriegsdienstverweigerer Da­niil über seine Flucht aus Russland

Im Dezember 2022 floh Da­niil weiter in die Türkei und flog von dort Richtung São Paulo. Zwischenstopp: Frankfurt. Nach EU-Recht können russische Bürger einen Flughafen in der EU nutzen, wenn sie einen Interkontinentalflug machen. In Frankfurt stellte sich Da­niil der Polizei und sagte: „Asyl.“

Er kam in eine Unterkunft in Gießen, wo er viele andere russische Geflüchtete traf. Im März 2023 wurde er dann weiter ins bayrische Kulmbach geschickt, gleichzeitig wurde sein Asylantrag bearbeitet. Im Juni 2024 wurde der Antrag jedoch abgelehnt.

Das entsprechende Schreiben des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) liegt der taz vor. Darin steht, dass Da­niil seine Geschichte zwar ausführlich belegen konnte. Allerdings bestünden Zweifel, inwiefern sein politischer Aktivismus negative Konsequenzen nach sich ziehen könnte, sollte er nach Russland zurückkehren. Außerdem bestünde keine besondere Gefährdung, denn: „Es handelt sich beim Antragsteller um keinen bekannten Politiker, Journalisten, Blogger, Menschenrechtler.“ Auch die Wahrscheinlichkeit einer Einberufung wird infrage gestellt.

Als Da­niil diese Zeilen las, habe er dies kaum glauben können und fühlte sich wie gelähmt. „Ein paar Monate lang lag ich einfach nur da und starrte die Decke an.“ Er kennt viele andere Russen, die Asyl erhalten hatten. Die meisten sind deutlich unpolitischer als er – und daher wahrscheinlich auch weniger gefährdet. Er sei sich sicher gewesen, dass er Asyl erhalten würde.

Die Argumentation des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge kann er nicht nachvollziehen. Unter anderem steht im Ablehnungsschreiben, dass es Möglichkeiten für ihn gegeben hätte, den Dienst zu umgehen, etwa durch Korruption. Ihn mache es „wahnsinnig“, dass ein deutsches Ministerium so etwas normalisiere. „Mit jedem Rubel, mit dem ich mich hätte freikaufen können, hätte ich das System unterstützt und für die Raketen bezahlt, die in der Ukraine fallen.“ Die Wut darüber sei in ihm so groß gewesen, dass er es damals nicht einmal versucht hatte. „Korruption ist ein Glücksspiel: Heute geht es gut, morgen schon nicht mehr.“

Er fragt sich: Was wäre mit ihm passiert, hätte das Schmiergeld doch nicht gereicht? „Wenn dir jemand eine Waffe an den Kopf hält und dich zwingt, etwas zu tun, kannst du natürlich ‚Nein‘ sagen. Aber dann wirst du halt umgebracht.“

Da­niil sagt, 95 Prozent der russischen Geflüchteten, die er kennt, erhielten kein Asyl. Die aktuellen Zahlen sagen so ziemlich das Gleiche aus. Und auch Experten, die sich mit Deutschlands Umgang mit russischen Geflüchteten befassen. Einer davon ist Artem Klyga. Er berät seit Jahren russische Männer, die niemals eine Waffe halten wollen. Der Jurist ist spezialisiert auf Militärrecht, in Moskau half er jungen Männern dabei, den allgemeinen Wehrdienst auf legale Weise zu umgehen, etwa durch einen Zivildienst.

Warten auf den Bescheid, bleiben zu dürfen: Kriegsdienstverweigerer Da­niil Foto: Sebastian Lock

Seit März 2025 arbeitet er für Connection e. V. Der Verein aus Offenbach am Main steht der Friedensbewegung nahe und unterstützt vor allem Deserteure. Klygas Aufgabe besteht darin, Menschen aus postsowjetischen Ländern zu beraten, die vor dem Krieg geflohen sind und in Deutschland Asyl suchen. Die Ablehnungsschreiben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge kennt Klyga inzwischen auswendig. Die Formulierungen seien „schablonenhaft“: „Das Bamf vertritt seit Langem den Standpunkt, dass es in Russland keine Mobilisierung mehr gibt und dass die allgemeine Wehrpflicht das Risiko der Einberufung nicht erhöht.“ Klyga hat das Bundesamt mehrfach darauf aufmerksam gemacht, dass eine Mobilisierung tatsächlich nach wie vor besteht. „Es wird erst dann keine Mobilisierung mehr geben, wenn der Krieg vorbei ist.“

Erst im März dieses Jahres wurden wieder 160.000 wehrpflichtige Männer eingezogen. Am Krieg nehmen offiziell nur Vertrags- und Zeitsoldaten teil, allerdings gibt es Berichte darüber, dass auch Wehrpflichtige im russischen Grenzgebiet kämpfen.

Welche Gründe sind hinreichend für das Bamf, um von einer potentiellen Verfolgung und Bestrafung russischer Männer ausgehen zu können, sollten diese zurückkehren? Weshalb erhalten viele von ihnen einen negativen Asylbescheid? Die taz hat das Bamf mit diesen Fragen konfrontiert. Die Antwort ist vage: Es handele sich immer um eine Einzelfallprüfung.

Klyga ist im September 2022 selbst aus Angst vor einer möglichen Einberufung geflohen. Die Polizei sei besonders darauf bedacht gewesen, ihn und zwei seiner Kollegen an die Front zu schicken. Kurz nach Kriegsbeginn hatte Klyga eine öffentliche Erklärung gegen den Krieg unterzeichnet.

Der Jurist nahm zehn verschiedene Züge quer durch Kasachstan, nach einer Woche kam er in Taschkent, der usbekischen Hauptstadt, an. Georgien erschien ihm zu gefährlich: „Damals gab es dort viele politische Aktivisten. Ich wollte nicht dort sein, wo es russische Spione und Sicherheitsdienste geben könnte.“ Zudem ist Usbekistan weiter von Russland entfernt.

Im Februar 2023 beantragte Klyga mithilfe einer Menschenrechtsorganisation ein humanitäres Visum für drei Jahre bei der deutschen Botschaft. Seit März 2023 lebt er in Deutschland. Klyga ist ein Sonderfall, nur wenige Russen haben Anspruch auf so ein Visum. Meist handelt es sich dabei um Oppositionelle oder Menschenrechtler wie Klyga.

„Es wird erst dann keine Mobilisierung mehr geben, wenn der Krieg vorbei ist“

Artem Klyga, Connection e. V.

„Deutschland hat viel für die Russen getan, die wegen des Kriegs geflohen sind“, sagt der Militärrechtsexperte. „Kein anderes Land hat so viel für russische Geflüchtete getan – noch dazu bereits kurz nach Kriegsbeginn, als es kaum jemandem in den Sinn kam, ausgerechnet jetzt den Russen zu helfen.“

Dennoch kritisiert er das Asylverfahren. Die Position des Bamf sei politisch motiviert. Und hinsichtlich der Deserteure gäbe es überhaupt keine Anstrengungen. Im Gegensatz zu den Tausenden Männern wie Da­niil, die noch vor dem Einzug geflohen sind, wagen auch immer wieder aktive Soldaten die Flucht vor der Front. „Wir reden hier von nicht einmal hundert Menschen. Als wir im Jahr 2023 damit begannen, das Thema groß zu machen, befand sich die damalige deutsche Regierung in einer Krise. Es gab keinen Raum, um sich mit dieser Frage zu beschäftigen.“ Er bezweifelt, ob die neue Regierung sich mit dem Problem befassen wird. Aktuell stellt lediglich Frankreich Reisepapiere für russische Überläufer aus. Gleichzeitig gibt es immer mehr Länder, etwa Armenien und Kasachstan, die einst viele Russen aufnahmen und diese jetzt abschieben. Auch Deutschland schiebt – wenn auch nur vereinzelt – russische Geflüchtete ab.

Nach dem Ablehnungsschreiben und der monatelangen Schockstarre hat Da­niil mit seinem Anwalt Berufung eingelegt. Bis zu drei Jahre lang könnte das weitere Verfahren dauern. Da­niil hofft, dass er gewinnt. Im Januar dieses Jahres hat das Berliner Verwaltungsgericht entschieden, dass russische Wehrpflichtige einen Anspruch auf Schutz haben. Mehrere Personen hatten gegen die negative Asylentscheidung des Bamf geklagt.

Sollte er dennoch kein Asyl erhalten, würde er andere Wege versuchen: zum Beispiel, indem er eine Ausbildung beginnt. Seit Oktober letzten Jahres arbeitet er als Kurierfahrer, mit dem Geld bezahlt er seinen Anwalt und einen B2-Sprachkurs. Zurück nach Russland will Da­niil auf keinen Fall. Er kennt einige Russen, die nach einer Ablehnung freiwillig zurück in die Heimat gegangen sind. Außer stundenlanger Verhöre hätte es keine Konsequenzen für sie gegeben. Allerdings seien das alles Leute gewesen, die zuvor sehr unauffällig, also unpolitisch, gelebt hätten. „Ich hingegen habe an Kundgebungen teilgenommen und in den sozialen Medien kritische Dinge über die Regierung geschrieben. Es gibt sogar mehrere Posts von mir, in denen ‚Ruhm der Ukraine‘ steht.“ Dass es nur leere Drohungen seien, die seine Familie erhalten hat, glaubt er nicht.

Nach dem Gespräch verlässt Da­niil das Café und steigt in den Lieferwagen, mit dem er morgen wieder durch die bayerische Provinz fahren wird. Er wird Pakete austragen und dabei ein wenig Smalltalk führen. Und sollte sich dann jemand, wie so oft, nach der Herkunft seines Akzents erkundigen, wird Da­niil vielleicht seine Geschichte erzählen.

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