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Flucht nach Ostberlin

Nach vielen Umwegen ist die PDS für Kadriye Karci zur politischen Heimat geworden. Ein Porträt

von ALKE WIERTH

Die Fenster ihrer Dreizimmerwohnung im Plattenbau in Berlin-Mitte sind noch Anfang Januar mit Weihnachtsmännern und Engeln geschmückt. Heiligabend hat es einen Weihnachtsbaum gegeben, ein paar Tage davor hat sie auch das türkische Zuckerfest gefeiert. Nicht aus religiösen Gründen, sagt Kadriye Karci, sondern weil sie ihren Sohn mit diesen Traditionen aufwachsen lassen will. Mit denen des Landes, aus dem sie stammt – der Türkei –, und denen des Landes, in dem ihr Sohn geboren ist: Deutschlands.

Seit Anfang Dezember ist die kleine und auf den ersten Blick zurückhaltend wirkende Frau das erste türkische Mitglied im Parteivorstand der Berliner PDS, und es dauerte nicht lange, da begannen die Sticheleien: Als Vorzeigetürkin wurde sie bezeichnet, vor allem von türkischer Seite.

Kadriye Karci muss sich das nicht zu Herzen nehmen. Ihr Leben war von Politik geprägt, eigentlich von Anfang an. Geboren wurde sie 1961 in der Nähe von Izmir in der Westtürkei. Ihr Vater, ein Lkw-Fahrer, war zeit seines Lebens Sozialdemokrat, ein Linksextremer also eigentlich nach den Maßstäben einer türkischen Kleinstadt. Und Ihre Mutter ließ sich als Analphabetin von den Kindern täglich aus der Zeitung vorlesen.

Kadriye und ihre fünf Geschwister entwickelten sich zu politisch denkenden Bürgern – nicht ungefährlich in der Türkei zu einer Zeit, in der alle zehn Jahre ein Militärputsch stattfand. Deshalb konnte Kadriye als kleines Mädchen ihren älteren Bruder nur einmal wöchentlich besuchen: in einem Gefängnis des türkischen Militärs, in das ihn seine Aktivitäten für linke Organisationen gebracht hatten. So lernte sie bereits als Kind die brutalen Umgangsformen des türkischen Staates mit seinen Kritikern und auch mit deren Angehörigen detailliert kennen.

Später, als Studentin in Istanbul, bekam Kadriye selbst Probleme. Der linke Studentenverband, in dem sie sich engagierte, wurde wegen seiner Nähe zur TKP, der Türkischen Kommunistischen Partei, verboten. Einige Jahre arbeitete sie illegal, doch nach Razzien und Verhaftungen beschloss die Organisation, Kadriye und ihren damaligen Ehemann aus der Türkei wegzubringen.

1985 flohen die beiden mit falschen Papieren und getrennt voneinander über Bulgarien in ihr Exil: die DDR. Kadriye wäre damals lieber nicht gegangen. Sie wollte ihr Studium der Rechtswissenschaften beenden, das hatte sie auch ihrem Vater versprochen. Doch bleiben, das hätte das Ende der politischen Arbeit bedeutet.

Von dem Land, in dem sie von nun an leben sollte, hatte Kadriye keinerlei Vorstellung, und Deutsch sprach sie natürlich auch nicht. In Ostberlin traf sie auf ihren Mann und drei weitere Türkeiflüchtlinge, die sie nicht kannte. Diese fünf blieben von nun an auf Geheiß des Studentenverbandes über Jahre hinweg zusammen. Gemeinsam lernten sie Deutsch, gemeinsam studierten sie später an der Humboldt-Universität. Sie wohnten zusammen, kochten zusammen und waren eng aufeinander angewiesen – eine türkische Kommune in Ostberlin.

Kontakt zu alten Freunden oder Verwandten in der Türkei durften sie in der ganzen Zeit nicht aufnehmen, ihre Kontakte zu DDR-Bürgern waren eingeschränkt. Vom normalen Leben in der sozialistischen Gesellschaft haben die fünf nicht viel mitbekommen. An der Uni kümmerten sich ausgewählte Studenten um die Probleme der türkischen Kommilitonen. An den regelmäßigen Treffen der FDJ an der Uni durften sie nicht teilnehmen, politische Aktivitäten waren ihnen verboten. „Wir waren ein Teil der Türkischen Kommunistischen Partei, und mit diesen Leuten blieben wir in Kontak. Mit der SED oder der FDJ hatten wir gar nichts zu tun“, erzählt Kadriye Karci.

Alle paar Wochen brachte ein türkischer Genosse Neuigkeiten, Lesestoff und Anweisungen der Partei; woher er kam, wussten die fünf nicht. Zu viele Fragen zu stellen war nicht gestattet. Dass sie anerkannte politische Flüchtlinge waren, dass ihr Aufenthalt und ihr Studium komplett von der DDR finanziert wurde, all das hat Kadriye Karci erst später erfahren – als sich nach dem Fall der Mauer der Zusammenbruch der DDR abzeichnete. Kadriye erinnert sich sehr gut an den letzten Besuch des TKP-Kontaktmannes, der sagte: „Ihr müsst jetzt selbst entscheiden, was ihr machen wollt.“ Das war’s.

Freuen konnten sich die fünf darüber damals nicht, erzählt Kadriye, im Gegenteil: „Wir haben ja daran geglaubt, für eine bessere Gesellschaft zu kämpfen. Und plötzlich waren alle unsere Theorien und Vorstellungen auf einmal schlecht!“

Für Kadriye begann eine anstrengende Zeit, eine völlige Neuorientierung in ihrem Leben. Nur in dem Bewusstsein, irgendwann in die Türkei zurückzukehren und die politische Arbeit dort fortzusetzen, hatten sie die Jahre in der DDR durchgehalten. Doch Anfang der Neunziger war die TKP immer noch eine illegale Organisation in der Türkei, eine Rückkehr kam damals nicht in Frage. „Wir mussten uns erst mal Papiere besorgen“, erzählt Kadriye, und zwar bei der türkischen Botschaft in Ostberlin. Weniger als 200 Türken lebten in den Achtzigerjahren in der DDR, gut hundert davon gehörten zum diplomatischen Korps. Die restlichen schätzungsweise achtzig waren vermutlich Türkeiflüchtlinge wie Kadriye. „Der Mann, mit dem wir in der Botschaft sprachen, wusste alles über uns“, erinnert sich Kadriye.

In den Wirren der Wiedervereinigung bekam Kadriye eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland. Die Rückkehr in die kapitalistische Gesellschaft ist ihr nicht leicht gefallen. Heute lacht sie bei der Erinnerung an ihren ersten Einkaufsbummel in Westberlin – ausgerechnet an der Neuköllner Karl-Marx-Straße: „Ich wurde verrückt in diesen großen Kaufhäusern. Ich konnte nicht feststellen, was ich eigentlich kaufen wollte, welche Farbe mir gefällt, ob ich einen langen oder einen kurzen Rock oder lieber eine Hose haben wollte.“ Vier Stunden irrte sie durch das Kaufhaus, ohne etwas zu kaufen. „Hinterher habe ich mich geärgert. Ich habe auf meine Partei geschimpft, innerlich.“

Zusammen mit vier Freunden schlug sich Kadriye damals zunächst mit Jobs, später mit ABM-Stellen durch. Doch die gemeinsame Erfahrung der Zeit in der DDR hielt die fünf nicht zusammen. Kadriyes Mann kehrte nach der Trennung Mitte der Neunzigerjahre in die Türkei zurück. Kadriye hat mittlerweile ein zweites Studium beendet. Eine Rückkehr in die Türkei kommt für sie längst nicht mehr in Frage, zumal auch der mittlerweile zehn Jahre alter Sohn lieber in Deutschland bleiben möchte. Ihr Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft wurde allerdings abgelehnt. Begründung: Die Bundesrepublik habe kein Interesse an ihrer Einbürgerung.

Ihre politischen Aktivitäten hat Kadriye Karci bald wieder aufgenommen: in der PDS, wo sie die besten Möglichkeiten sieht, ihre Vorstellungen von einer gerechteren Gesellschaft politisch umsetzen zu können. Anfang Dezember wurde sie als erste Türkin in den Berliner Landesvorstand gewählt.

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