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Flucht in den RavePlädoyer für den Kontrollverlust

Warum der Mensch den Rave, den Schmutz und das Loslassen braucht. Gedanken auf dem Puppenräuber-Floor der Wilden Möhre um zwei Uhr morgens.

Wir leben den westlichen Traum. Aber suchen wir nicht etwas anderes? Foto: Alexander Popov/unsplash

Es haut alles gleichzeitig rein, als ich auf der Tanzfläche stehe. Der Bass haut mir fast die Füße unter dem Boden weg. Gleichzeitig stehe ich in tiefer Verbindung mit der Erde unter mir, während der Regen auf mich niederprasselt. Der Beat haut rein so wie der Ellbogen von der Person neben mir, die sich diesem mit einem lauten „Wouh“ komplett hingegeben hat. Ich schließe die Augen, tue ihr gleich.

Hinter mir schreit jemand: „Das hat mir so gefehlt“. „Das“ ist das Tanzen unter fast 3.000 anderen Menschen bis in den Morgen hinein. „Das“ ist, den Schweiß der anderen mit dem eigenen verschwimmen, und die Sneakers sich mit Schlamm vollsaugen lassen. Es ist mit fremden Leuten zu quatschen und ähh „Zigaretten“ zu teilen. Gleichzeitig gemeinsam die vollurinierten Latrinen zu nutzen und am frühen Morgen auf hartem Boden einzuschlafen. Ja, das hat so gefehlt, und fast hatte ich schon vergessen, dass es mir gefehlt hatte, denke ich, während ich tatsächlich Gänsehaut bekomme.

Die Pandemie ist noch gar nicht vorbei und es tummeln sich schon tausende von Menschen auf den Floors, wo auch immer es wieder möglich ist. Wir haben über ein Jahr lang gelehrt bekommen, wie wichtig strikte Hygiene und Abstand sind. Was der Mensch braucht und sucht, scheint hier auf der Wilden Möhre etwas anderes zu sein: Tanzen, Schmutz, Loslassen.

Der Mensch braucht den Kontrollverlust. Schon im Mittelalter feierte man Fastnacht, bei den alten Römern tauschten Herren und Sklaven jährlich bei den Saturnalien für ein paar Tage die Rollen. Und Woodstock ist jetzt auch schon seit über 50 Jahren Kult. Der Mensch hat das Bedürfnis nach temporären, geregeltem Chaos, geht es mir durch den Kopf.

Schein-Flucht aus der Komfortzone

Auch wir brauchen den Kontrollverlust. Wir, eine Blase von Menschen, die „alles“ haben. Die meisten sind Studierende, junge Menschen wie ich. Die meisten kommen aus Berlin, manche aus Dresden oder Magdeburg. Aus Polen treffe ich niemanden in dem Brandenburgischen Wald an der Grenze zu Polen und Sachsen. Kaum Empfang, drei Tage im See baden, Drogen nehmen und Glitzer im Gesicht tragen – weshalb? Wir haben fließendes Wasser, saubere Wohnungen, mehr als genug zu essen, genießen die beste Bildung. Könnten den westlichen Traum leben und suchen doch mindestens einmal im Jahr, ihm zu entfliehen.

Wir sind irgendwie auch politisch hier und gleichzeitig wiederum nicht. Das Festival ist sehr ökologisch, das Essen vegetarisch, es gibt Vorträge und so, in denen ziemlich verstrahlte Leute drinsitzen, die ziemlich verstrahlten Leuten beim Reden zuhören. Hier will man etwas verändern, vielleicht. Dann zahlen wir, um mit den anderen aus unserer Blase in Ruhe zu feiern.

Wir zahlen, um uns beim Kost-Nix-Laden antikapitalistisch zu fühlen. Fühlen uns drei Tage mit der Natur im Einklang und fahren dann mit dem Mietwagen zurück nach Berlin. Kritisieren den Egoismus und fehlende Solidarität in der Gesellschaft und tanzen doch alleine, je­de:r für sich. Sind alle gleich individuell. Wir suchen Freiheit und stellen gleichzeitig Regeln auf für „richtig“ und „falsch“.

Sind wir links-grüne Rebellen? Kaum. Wir machen nicht kaputt, was uns kaputt macht. Wir erhalten es vielmehr, dadurch, dass wir uns ein Wochenende lang im Wald verstecken, uns etwas anderes einreden, loslassen, um uns dann wieder einzugliedern in das System, in die Gesellschaft, ein weiterer Stein in der Wand.

Zwischen Haben und Sein

Wovor fliehen wir und kehren dann doch in das geregelte Leben zurück? Ein Leben in Sicherheit und Ordnung, unter Umständen, die sich die meisten Menschen auf der Welt nur wünschen können – und entspannen aber im zur Musik pulsierenden Dreck? Oder haben wir gar kein geordnetes Leben, keine Umstände, die uns guttun? Wovor flüchten wir, wenn wir Pillen nehmen und die Nacht hindurch zum Beat vibrieren? Gibt uns die Gesellschaft etwa gar nicht das, was wir wollen?

Es sollte ein Plädoyer für den Kontrollverlust werden, und jetzt bin ich mir nicht mehr sicher darüber. Erstens, weil die ganzen Gedanken durch meinen Kopf fliegen, obwohl ich doch nur loslassen möchte und tanzen. Und zweitens, weil ich mich frage, ob dieses Gefühl, das ich suche, der Freiheit, des Kontrollverlustes, der Ekstase, dass das einhergeht mit meinem eigentlichen Leben, zu dem ich morgen zurückkehre und das offenbar genau das Gegenteil bedeutet. Kontrolle, Vernunft, Konformität.

Vielleicht ist aber auch gerade das das Geile, die kurzen Oasen der Flucht in den Rave, die kurzzeitige Möglichkeit zu vergessen. Und dann wieder zurück in das Leben, das doch schön genug ist, wie es ist, als dass wir es ganz aufgeben wollen. Vielleicht, denke ich, für den Moment will ich einfach nur tanzen.

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