Flucht aus russisch-besetzten Gebieten: Von Träumen, Heimweh und letzten Fotos
Die russische Armee besetzt ihre Heimatstädte und Regionen in der Ukraine. Drei Portraits von Frauen, die im Exil versuchen zu überleben.
Träume für Mariupol
E in heller großer Raum in einem Gebäude im Zentrum der westukrainischen Stadt Lwiw. An den Wänden Fotos, in einem Regal, an einem Holzstab, eine blau-gelbe Flagge mit einem Anker in der Mitte. Darauf steht „Mariupol“. Alewtina Schwezowa lächelt und legt einen Bildband auf den Tisch. Sie schlägt ihn auf und beginnt die Seiten umzublättern. Ihre Finger gleiten fast zärtlich über die Aufnahmen.
Auf einer ist das Drama-Theater von Mariupol zu sehen, das russische Truppen im März 2022 dem Erdboden gleichmachten. In dem Theater hatten Hunderte Zivilist*innen Zuflucht gesucht. Wenn Schwezowa in dem Buch blättert, reist sie in die Vergangenheit, zurück zu glücklichen Momenten und einem schmerzlichen Verlust. „Mariupol, diese einzigartige Stadt, das war mein Leben“, sagt sie. „Ich habe jeden Stein, jedes Haus, jeden Menschen geliebt und jede Welle des Meeres.“
Die 35-Jährige wächst in Mariupol auf. Kurz nach ihrem Studium bringt die Ingenieurin ihren heute elf Jahre alten Sohn Gleb zur Welt. 2016 geht sie zum lokalen TV-Sender Ranok Mariupolja. Dann, sechs Jahre später, kommt der Tag, der alles verändert: Am 24. Februar 2022 beginnt Russlands Vollinvasion in der Ukraine. „Es war die Hölle. Ständiger Beschuss, kein Wasser, nichts zu essen, auf den Straßen lagen überall Leichen“, erinnert sie sich. Nach 21 Tagen gelingt es ihr und ihrer Familie, der Hölle zu entkommen. Erstes Ziel ist Krywyj Rih – eine Industriestadt im Gebiet Dnipropetrowsk und Geburtsort des heutigen Präsidenten Selenskyj. Doch als auch hier der Bombenterror unerträglich wird, fliehen sie erneut. Die vorläufige Endstation heißt Lwiw.
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2024 bekommt Schwezowa dort einen Job – im Ausstellungszentrum „Mariupol reborn“. Hier finden regelmäßig Kulturveranstaltungen zur Geschichte von Mariupol statt. Schwezowa betont, dass ihre Stadt den Angriffen russischer Truppen 86 Tage lang Widerstand leistete. Aber auch andere Orte in von Russland völkerrechtswidrig besetzten Gebieten werden dort in Ausstellungen, Vorträgen und Lesungen zum Thema.
Schwezowa hat nur noch wenige Kontakte nach Mariupol. Manchmal schicken Leute Fotos von der russisch besetzten Stadt. „Dann krampft sich in mir alles zusammen. Ich kann sie nicht ertragen, diese Ungerechtigkeit“, sagt sie. „Russland hat meine Stadt getötet. Doch dafür wurde bisher niemand zur Verantwortung gezogen.“
Mittlerweile ist Schwezowa geschieden, ihr Ex-Mann ist bei der ukrainischen Armee und kämpft an der Front. Die Eltern und der Bruder sind nach Deutschland geflüchtet und leben heute in Freiburg. „Ich habe großes Heimweh“, sagt Schwezowa. Manchmal nehme sie ihren Sohn in den Arm und dann reisten sie gemeinsam in Gedanken nach Mariupol. „Wir erinnern uns an unsere Lieblingsorte, an die Promenade, an Cafés und an das, was wir dort gegessen haben.“
Ob sie einen Traum habe? Sogar zwei. Alle Kriegsgefangenen, die Mariupol verteidigt haben, sollten zurückkehren. Und die ukrainische Flagge solle wieder über der Stadt wehen. „Dann“, sagt Schwezowa, „würde ich den ersten Zug nehmen, nach Mariupol. Barbara Oertel
In alle Winde zerstreut
Wenn der Krieg vorbei ist, will ich zurück in die Ukraine. Aber die Kinder fühlen sich wohl in Deutschland“, sagt Olha Haidamachuk. Seit März lebt die Ukrainerin mit ihrem Mann und drei Kindern in einem Dorf bei Berlin.
Der Heimatort der 49-Jährigen im Gebiet Luhansk ist russisch besetzt. Die Stadt Charkiw, in der sie fast dreißig Jahre gelebt hat, steht unter russischem Dauerbeschuss. Haidamachuk ist außerordentliche Professorin an der Fakultät für Ukrainistik, Kulturgeschichte und Wissenschaftsgeschichte der Nationalen Technischen Universität Charkiw. Heute unterrichtet sie nur noch online. Die Studierenden sind seit 2022 in alle Winde zerstreut.
Ursprünglich stammt Haidamachuk aus dem Bezirk Starobilsk. In Charkiw studierte sie Ukrainistik, Kulturphilosophie und Philosophische Anthropologie. Mit Beginn des russischen Großangriffs floh die Familie nach Krementschuk, kurz darauf zu einer Freundin nach Deutschland. Ihr Mann hatte sich zwar zur Armee gemeldet, wurde aber aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt. So blieb die Familie zusammen.
Kontakte in die russisch besetzten Gebiete habe sie keine mehr, sagt Haidamachuk. Doch dann erzählt sie von ihrem jüngeren Bruder. Der lebte 2022 als jung verheirateter Familienvater in Siwerskodonezk, im Westen des Gebietes Luhansk. Bei Kriegsbeginn war dort alles ruhig. Aber schon bald wurden die Menschen mit Zügen evakuiert. Ihr Bruder hatte sich gerade ein Auto gekauft, das er ebenso wenig zurücklassen wollte wie seine Wohnung. Dann gab es keinen Weg mehr über die Front nach Westen. So kam er nach Russland, zu Verwandten seiner Frau.
„Das letzte Mal haben wir vor einem Jahr voneinander gehört“, erzählt sie leise. „Schon sein ukrainischer Nachname kann ihn verdächtig machen. Ich schreibe auf Facebook über ukrainische Themen. Das kann für ihn gefährlich sein.“
Kontakte in von Russland kontrollierte Gebiete seien generell problematisch, sagt Haidamachuk. Denn die Menschen hätten jetzt häufig russische Telefonnummern. Handys und Chatverläufe würden oft überprüft, da könnten Verbindungen in die Ukraine verdächtig sein. Ihre Eltern hätten ihnen im Gebiet Luhansk eine Wohnung vererbt. Wer jetzt darin lebt, ob es sie überhaupt noch gibt – sie zuckt nur mit den Schultern.
Trumps Gerede über einen Gebietsaustausch hält Haidamachuk für einen schlechten Scherz. „Innerhalb international anerkannter Grenzen gehören alle diese Gebiete dem ukrainischen Volk. Wir haben 2014 kampflos die Krim verlassen, hat das etwa zu Frieden mit Russland geführt?“. Ein Einfrieren des Konflikts löse keine Probleme. „Man hätte Putin in Alaska verhaften sollen, aber man hat ihm den roten Teppich ausgerollt.“ Zu Sowjetzeiten hieß es scherzhaft: „Wir wurden geboren, um aus Kafka Realität zu machen.“ Jetzt sei Moskau noch weitergegangen mit dem schwarzen Humor, meint Haidamachuk. „Putin zeigt, dass die Absurdität keine Grenzen mehr kennt.“ Gaby Coldewey
Nur ein Foto hat sie noch
In ihrer Heimatstadt Melitopol war Liusiena Zinovkina zuletzt vor dreieinhalb Jahren. Wie sich die Stadt nahe des Asowschen Meers verändert hat, bekommt die Ukrainerin nur aus dem Exil in Berlin mit, wenn sie mit Freunden oder Verwandten von dort chattet. „Sie sagen mir, ich würde die Stadt nicht wiedererkennen, wenn ich je zurückkehren würde“, sagt sie. „Ein Bekannter hat mir Fotos geschickt, es sah schrecklich aus. An den Straßen die großen Werbetafeln mit russischer Propaganda, und überall die Farben weiß-blau-rot.“ Niemand soll übersehen, dass die 150.000-Einwohner-Stadt in russischer Hand ist. Bereits am dritten Kriegstag, dem 26. Februar 2022, wurde Melitopol eingenommen.
Liusiena Zinovkina hat die Stadt kurz vor Beginn des russischen Angriffskriegs verlassen, weil sie für eine berufliche Weiterbildung nach Kyjiw zog. Es war ihr Glück, sonst würde sie heute unter Besatzung leben. Ihr Mann Kostiantyn Zinovkin aber hielt sich damals in Melitopol auf, ihn musste sie zurücklassen. Heute sitzt er in Rostow am Don im Gefängnis; im Mai 2023 war er vom russischen Geheimdienst FSB gefangen genommen worden, weil er an Protesten gegen die Besatzung teilgenommen hatte. „Unter anderem wird ihm die Mitgliedschaft in einer terroristischen Gruppierung vorgeworfen“, sagt Liusiena Zinovkina, „ihm drohen zwanzig Jahre Haft. Es ist die für Russland typische Willkür. Sie haben wirklich Angst vor Menschen, die die russische Welt nicht akzeptieren.“
Vor zwei Wochen war sie zuletzt in schriftlichem Kontakt mit ihrem Mann, er sei gesundheitlich einigermaßen stabil, sagt sie. Laut der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) sind mindestens 14.000 Zivilisten von russischen Beamten oder Militärs festgenommen und verschleppt worden, die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Ein Urteil für ihren Mann wird für November erwartet.
Liusiena Zinovkina wurde 1992 in einer Kleinstadt in der Nähe von Melitopol geboren und wuchs dort auf. Ende der Nullerjahre zog sie nach Melitopol, um Sozialpädagogik an der Universität zu studieren. 2012 lernte sie ihren Mann Kostiantyn in einem Ferienlager am Asowschen Meer kennen, als sie dort beide als Betreuer arbeiteten. Als die Russen im Februar 2022 die gesamte Ukraine beschossen und bombardierten, floh Liusiena Zinovkina nach Berlin. Dort lebt sie noch heute, genauso wie ihre Schwester und ihre Neffe. Zinovkina arbeitet als Sozialpädagogin in einer Jugendeinrichtung und kämpft für die Freilassung ihres Mannes.
„Das Leben unter Besatzung ist ein großes Gefängnis, man hat dort keine Freiheit“, sagt die 33-Jährige. Das wisse sie von den Bekannten und Verwandten, auch wenn sie manchmal zwischen den Zeilen lesen muss, weil diese sich nicht frei äußern könnten. Eine Rückkehr habe sie nie in Erwägung gezogen. Zinovkina, eine schmale, sportlich aussehende Frau, spricht fast fließend Deutsch, sie ist zum Gespräch in die taz Kantine gekommen. Manchmal sieht man ihre Augen hinter den Brillengläsern leicht glänzen; es scheint, als müsse sie mit den Tränen kämpfen.
So auch, als sie über ihre Mutter spricht. Die ist 2022 zunächst im besetzten Melitopol geblieben. „Sie wollte ihr Haus und ihre Umgebung nicht verlassen, wie es bei der älteren Generation öfter so ist. Ich wollte, dass sie nach Berlin kommt. Aber sie konnte sich nicht dazu durchringen.“ Der Kontakt zu ihr habe darunter gelitten, „ich konnte ihre Entscheidung nicht verstehen.“
Bei ihrer Mutter, die vor einigen Jahren schon eine Brustkrebs-Erkrankung überstanden hatte, wurden im Frühjahr 2025 wieder Metastasen gefunden, so Zinovkina. Sie sei im Krankenhaus Melitopol behandelt worden, dort habe man kurz darauf festgesellt, dass der Krebs überall im Körper gestreut hat. Trotzdem sei sie von den Ärzten nach Hause geschickt worden, es gebe in Melitopol derzeit nur einen Onkologen.
Mithilfe mutiger russischer Bürger sei es gelungen, ihre Mutter über die belarussisch-polnische Grenze – wo die Töchter sie abholten – nach Berlin zu holen und sie in die Charité zu bringen. Aber es war zu spät, ihre Mutter hatte wertvolle Zeit verloren, Anfang Juli verstarb sie. „Diese Geschichte sagt auch viel über Besatzung“, sagt Zinovkina sichtlich bewegt. Ihre Mutter soll nun in Berlin begraben werden – eine Stadt, mit der sie nie etwas zu tun hatte.
Ihr Elternhaus in Melitopol, in dem die Mutter zuletzt allein lebte, steht nun leer. Liusiena Zinovkina glaubt nicht an eine Rückkehr. „Wahrscheinlich werde ich Melitopol nie wiedersehen. Ich bin so wütend. Wie kann es sein, dass meine Heimatstadt jetzt einfach in einem anderen Land ist?“, sagt sie. „Die Welt entscheidet darüber, dass das nun Russland ist. Und alle müssen sich damit zufrieden geben.“ Die Entscheidung, ob der Krieg weitergeführt werde oder nicht, solle doch eigentlich vor allem bei der ukrainischen Armee liegen, meint sie.
Ihre Mutter hat Zinovkina ein Foto aus ihrer Kindheit mit nach Berlin mitgebracht. „Das ist das einzige, was ich noch von meinem alten Leben habe“, sagt sie und holt das Foto aus einer Mappe. Darauf zu sehen ist ein Mädchen im Schulalter, in bunter Kleidung, lächelnd. Jens Uthoff
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