Filmregisseurin über gewalttätige Frauen: „Wie ein weiblicher Cowboy“
Ursula Meier dreht ihre Filme vorzugsweise in der Schweiz. Ihr neuester, „Die Linie“, verhandelt eine gewaltvolle Mutter-Tochter-Beziehung.
Die brutale Handgreiflichkeit zwischen einer erwachsenen Tochter und ihrer Mutter, mit der Ursula Meiers Film „Die Linie“ unvermittelt einsetzt, gehörte auf der Berlinale 2022 zu den eindrucksvollsten Szenen. Nun endlich kommt das Drama, in dem sich die 35-jährige Margaret in der Folge dem Haus der Familie und damit auch ihrer 12-jährigen Schwester nicht mehr als 100 Meter nähern darf, in die deutschen Kinos. Die taz traf dazu die aus der französischen Schweiz stammende und in Belgien lebende Regisseurin in Paris zum Interview.
taz: Frau Meier, der Grundgedanke bei Ihrem neuen Film „Die Linie“, den Sie gemeinsam mit Ihrer Hauptdarstellerin Stéphanie Blanchoud geschrieben haben, war, eine Geschichte über weibliche Gewalt zu erzählen. So gaben Sie es zur Weltpremiere auf der Berlinale zu Protokoll. Hegten Sie diesen Wunsch schon lange?
Ursula Meier: Tatsächlich schwirrte diese Idee schon lange in meinem Kopf herum, Jahre bevor ich Stéphanie überhaupt kannte. Ich wollte unbedingt mal einen Film drehen über eine weibliche Protagonistin, die kämpft, die physisch und brutal ist. Denn so etwas sieht man im Kino eigentlich nie. Anfangs dachte ich immer, dass das mutmaßlich eine Geschichte über Teenager wird. Doch dann traf ich Stéphanie, die eben nicht mehr jugendlich ist, und plötzlich nahm die Sache eine neue Gestalt an. Wobei ich das Schreiben des Drehbuchs dann als unerwartet große Herausforderung empfunden habe.
Warum?
Weil ich mich persönlich mit dem Thema Gewalttätigkeit von Frauen eigentlich nicht auskenne. Und es eben auch nicht viele Referenzen dazu gibt. Weibliche Gewalt ist deutlich weniger dokumentiert als männliche, nicht nur im Kino. Es scheint da ein echtes Tabu zu geben, obwohl niemand ernstlich wird bestreiten können, dass es sie gibt.
Die Regisseurin wurde 1971 in Besançon geboren. Sie studierte in Belgien Film. Ihr erster Kinospielfilm „Home“ hatte 2008 in der Semaine de la Critique in Cannes Premiere. „Winterdieb“, ihr zweiter Spielfilm, lief 2012 im Wettbewerb der Berlinale, wo er mit dem Silbernen Bären, dem Großen Jurypreis, ausgezeichnet wurde. Ursula Meiers Fernsehfilm „Schockwellen – Tagebuch des Todes“ lief 2018 ebenfalls auf der Berlinale.
Wie erklären Sie sich, dass dieses Thema so tabuisiert ist? Liegt es schlicht am Frauenbild, das in unserer Gesellschaft bevorzugt wird?
Das ist sicherlich eine Erklärung. Frauen sollen liebevoll und mütterlich oder sexy sein, aber nicht brutal. Stéphanie und ich haben uns beim Schreiben schon auch gefragt, ob die Leute eine solche Geschichte überhaupt sehen wollen. Und tatsächlich gab es Leute, die uns berichteten, dass sie eigentlich einen Bogen um „Die Linie“ machen wollten, rein der Thematik wegen. Doch dann war der Tenor fast immer, dass der Film sie am Ende umso mehr berührt habe. Aber um noch mal auf die Frage zurückzukommen: An der gesellschaftlichen Konvention, dass Gewalt und Brutalität männlich konnotiert sind, lässt sich offenkundig schwer rütteln. Für Frauen gibt es da nur wenige Ausnahmen. Die müssen dann schon unter Drogeneinfluss stehen oder in aussichtslosen Schwierigkeiten stecken. Außer natürlich, sie sind schlicht hysterisch!
Oder man erzählt Geschichten über Mütter, die um Ihre Kinder kämpfen!
Genau. Für sie. Aber nicht gegen sie, was in unserem Film ja auch der Fall ist.
Das stimmt. Die von Valeria Bruni Tedeschi gespielte Mutter der Protagonistin ist eigentlich die brutalste aller Figuren, wenn auch eher im psychologischen als im körperlichen Sinne. War es schwierig, sie nicht als komplettes Monster darzustellen?
Es bedurfte auf jeden Fall einer gewissen Gratwanderung. Wir mussten, gemeinsam mit Valeria, sicherstellen, dass es zumindest ein paar Momente gibt, wo das Publikum auch mit ihr ein wenig Empathie empfinden kann. Und wo die Figur zumindest ansatzweise realisiert, dass es womöglich nicht die Schuld ihrer Kinder ist, dass sie ihre Karriere als Pianistin vermisst.
Schrieben Sie ihr die Rolle auf den Leib?
Mehr oder weniger. Ich finde sie als Schauspielerin einfach unglaublich. In meinen Augen ist sie die Gena Rowlands des französischen Kinos.
„Die Linie“ ist nicht Ihre erste Drehbuchzusammenarbeit, aber Sie schrieben zum ersten Mal gemeinsam mit Ihrer Hauptdarstellerin, die noch dazu bislang keine Skripterfahrung hatte. Wie gingen Sie vor?
Wir begannen mit dem Schreiben gemeinsam. Ganz klassisch eigentlich: Wir saßen zusammen und entwickelten die Figuren, das Setting, den Plot. Das zog sich über einen längeren Zeitraum hin, und irgendwann musste ich eine Pause einlegen, weil ich einen Fernsehfilm drehte. Ich schlug also vor, noch zusätzlich jemanden mit ins Boot zu holen, und unsere Wahl fiel dann auf Antoine Jaccoud, mit dem ich alle meine vorherigen Drehbücher geschrieben hatte. Das war auch deswegen spannend, weil er – nicht nur, aber auch weil er ein Mann ist – auf manches noch mal einen ganz anderen Blick hatte. Von ihm kam auch die Diagnose unserer Protagonistin.
Welche Diagnose?
Zunächst hatten wir uns nicht so wahnsinnig viele Gedanken darüber gemacht, warum sich diese Frau so aufbrausend, emotional und unberechenbar verhält. Wichtig war uns einfach, dass sie es tut. Aber Antoine las unser Skript und sagte: Ich glaube, Margaret hat eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Das half uns enorm. Plötzlich hatten wir etwas Konkretes, wozu wir auch recherchieren konnten. Tatsächlich passte das alles genau in das Bild, das wir von unserer Protagonistin entworfen hatten. Wenn sie sich verletzlich und angreifbar fühlt, reagiert sie darauf mit Aggression statt mit Worten. Und am Ende entschuldigt sie sich dann und will alles am liebsten ungeschehen machen. Das scheint ein sehr typisches Borderline-Verhalten zu sein. Für Stéphanie war diese Diagnose gerade bei der Verkörperung der Figur eine echte Stütze. Daran konnte sie sich festhalten und vor allem auch eine gewisse Distanz zwischen sich und Margaret herstellen.
Zugleich gehen mit einer Diagnose auch gewisse Erwartungen seitens der Zuschauer*innen einher, oder? Wie viel Wert legten Sie darauf, dass aus psychiatrischer Sicht alles hieb- und stichfest ist?
Oberste Priorität hatte das nicht. Ich wollte die Figur nicht reduzieren auf diese Diagnose oder ein vollständiges Bild des Krankheitsbildes auf die Leinwand bringen. Natürlich haben wir uns in die Thematik eingelesen, und ich habe mich auch mit vielen Menschen unterhalten, die sich damit auskannten und mir über Verhaltensweisen Betroffener erzählen konnten. In manchen Drehbuchfassungen gab es auch deutlich mehr Details dazu, etwa was Margaretes Medikation angeht. Aber wie bei allen meinen Filmen habe ich dann mit Näherrücken des Drehs mehr und mehr Elemente des Buchs wieder weggestrichen oder gekürzt, um mich wirklich auf das Rückgrat der Geschichte zu konzentrieren.
„Die Linie“. Regie: Ursula Meier. Mit Stéphanie Blanchoud, Valeria Bruni Tedeschi u. a. Schweiz/Frankreich/Belgien 2022, 103 Min.
Würden Sie eigentlich unterschreiben, dass es Ihr Markenzeichen ist, Filme über familiäre Beziehungen in den unterschiedlichsten Facetten zu drehen?
Nein, eigentlich nicht. Zumindest nicht bewusst. „Die Linie“ war zum Beispiel für mich die längste Zeit erst einmal gar keine Familiengeschichte, sondern ganz eindeutig ein Film über Margaret. Wir haben alles um sie herum gestrickt, sie war der Fokus. Beim Schreiben des Drehbuchs war mein Ansatz deswegen auch zunächst, dass ich keine offensichtliche Erklärung dafür liefern wollte, woher ihre Aggression und Gewaltbereitschaft kommen. Doch je mehr wir uns mit ihr beschäftigten, desto weniger ließen sich die Ursprünge ihres Verhaltens letztlich ignorieren. Und so kamen dann, entgegen meinen anfänglichen Intentionen, eben doch die Mutter und die Familie ins Spiel. Aber in meinem nächsten Film wird es um etwas anderes gehen!
Was Ihren Filmen in jedem Fall gemein ist, ist die Schweiz als Setting. Warum bleiben Sie Ihrer Heimat als Regisseurin so konsequent treu?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. Zunächst einmal macht es mir Freude, mit all den nicht zuletzt visuellen Klischees zu brechen, die es rund um die Schweiz gibt. Gleichzeitig ist es ein riesiger Vorteil, dass das Land filmisch noch gar nicht so erschlossen, also sozusagen zu Tode gefilmt ist. Man kann immer noch sehr viel Neues zeigen – und auf engstem Raum findet man oft eine enorme Vielfalt an Bildern. In der Gemeinde im Kanton Wallis, wo wir „Die Linie“ gedreht haben, gibt es in einem Radius von 100 Metern nicht nur den Genfer See, den wir im Film allerdings nicht direkt zeigen, sondern der quasi durch eine Werft und eine Fischerei repräsentiert wird. In unmittelbarer Nähe sieht man auch sozialen Wohnungsbau genauso wie typische Einfamilienhäuser für die Mittelschicht, im Hintergrund die Berge und obendrein erstaunlich weite Freiflächen, durch die unsere Protagonistin marschiert wie ein weiblicher Cowboy durch den Wilden Westen. Die Möglichkeiten, die sich mir als Filmemacherin dort bieten, sind enorm.
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