Verbrechen auf Schweizerisch: Abgründe tun sich auf

Arte zeigt an zwei Freitagen „böse“ Filme nach Kriminalfällen in der Schweiz: brutal authentisch – und mit Fanny Ardant.

Schüler Benjamin, Szene aus "Tagebuch des Todes"

Schwieriger Schüler: Szene aus „Tagebuch des Todes“ Foto: arte

Ein Kriminalfall, der nicht mit einer küchenpsychologisch einleuchtenden Erklärung auftrumpft. Der rein gar nichts anbietet, woran der Zuschauer sich festhalten könnte. Vielleicht wurde, wie es ja so heißt, der Gerechtigkeit Genüge getan, ein Urteil gesprochen. Wie im ersten von vier Filmen „Schockwellen“, die Arte zeigt, jetzt im Juli, während andere öffentlich-rechtliche Sender nur in ihren Archiven kramen.

Alle Filme beruhen auf brutalen Verbrechen, wie sie so – oder so ähnlich – in der Schweiz verübt wurden. Die verbürgte Authentizität ist ihre einzige Rechtfertigung – denn sonst würde kein Sender so was produzieren, kein Zuschauer so was gucken.

Der erste Film, „Tagebuch des Todes“: Ein gerade achtzehnjähriger Schüler erschießt mit der Pistole aus Vaters Kleiderschrank seine Eltern. Das wird nicht allzu explizit gezeigt. Unerträglich ist die Frage: Warum hat er das nur getan? Warum tötet ein Junge seine Eltern: „Meinen Vater, weil er ein armseliger Typ ist, der mich zutiefst anwidert. Meine Mutter, um ihr zu ersparen, als Witwe mit einem kriminellen Sohn leben zu müssen.“

Immerhin hat sich der Sohn, vor der Tat, schriftlich erklärt und seine Aufzeichnungen an seine Französischlehrerin geschickt. Der ratlose Untersuchungsrichter macht ihr Vorwürfe: „Haben Sie da nichts kommen sehen?“ Seine Vernehmungen des Jungen sind nämlich nicht sehr ergiebig: „Hat Ihnen Ihr Vater irgendwann Leid angetan? Hat er Sie gedemütigt, Sie verprügelt? Hat er Sie sexuell missbraucht?“ „Nein. Niemals, Monsieur.“ „Und Ihre Mutter? Hat Ihre Mutter Ihnen was angetan? Sie verprügelt oder Sie beleidigt?“ „Nein.“

20. 7: „Schockwellen – Tagebuch des Todes“, Arte, 20.15 Uhr; „Schockwellen – Reise ohne Rückkehr“, 21.25 Uhr.

27. 7: „Schockwellen – Flucht in die Berge“, 20.15 Uhr; „Schockwellen – Der Fall Mathieu“, 21.05 Uhr.

Da fällt dem Richter eben nichts Besseres ein, als der Lehrerin vorzuhalten, ihre Schüler mit dem Ödipus-Mythos – Vatermord! – vertraut gemacht zu haben. Wahrscheinlich sind es die von ihm beförderten Schuldgefühle, die sie dazu veranlassen, den Jungen, der sich selbst zur Vollwaise gemacht hat, während seiner Freigänge aus dem Gefängnis bei sich aufzunehmen: „Sie haben keine Angst, dass ich Sie töte?“ „Nein. Ich glaube, nicht. Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil Sie nur noch mich auf dieser Erde haben, Benjamin.“

Ein Star

Die bedauernswerte Lehrerin des bedauernswerten Jungen wird gespielt von Fanny Ardant, die ein so großer Star ist, dass Paolo Sorrentino sie in „La Grande Bellezza“ als Fanny Ardant hat auftreten lassen. Die Regisseurin Ursula Meier könnten Kinogänger von ihrem grotesk-schönen Film „Home“ (2008) kennen, der von einer Familie handelt, die sich in ihrem Leben und Haus am Rande einer unfertigen Autobahn ziemlich gut eingerichtet hat – bis die Autobahn eröffnet wird.

In Meiers Beitrag zur „Schock­wellen“-Reihe bleibt für originelles Erzählen so wenig Raum wie im zweiten Film von Frédéric Mermoud, der zuvor die Regie bei vier Folgen der – originellen – Wiedergänger-Serie „Les Revenants“ (deutscher Titel: „The Returned“) besorgt hat. Wollte man Mermouds Projekte auf einen Nenner bringen – es wäre wohl: das Abgründige.

Abgründe tun sich auf in „Reise ohne Rückkehr“, zweiter Film also, wenn diese Reise in der Ermordung sämtlicher Mitglieder einer Sekte durch ihren transzendenten Schwachsinn fabulierenden Guru besteht. Oder ist es kollektiver Selbstmord? Um die Erörterung juristischer Fragen nach der Tatherrschaft geht es Mermoud aber offenbar nicht – lieber zeigt er alle Handgriffe des Tötens in epischer Ausführlichkeit. Ehrlich gesagt: Die Netflix-Documentary „Wild Wild Country“ (über die Bhagwan-Kommune in Oregon) ist der erhellendere Beitrag zum Thema Sekten-Irrsinn, der unterhaltsamere sowieso.

In Henning Mankells Wallander-Krimi „Vor dem Frost“ wird aus einem Überlebenden des Jonestown-Massakers in Guayana 1978 mit über 900 Toten später ein christlich-fundamentalistischer Terrorist. Sollte es den „Schockwellen“ etwa darum gehen, solchem krimitypischen billigen Psychologisieren eine möglichst apodiktische Absage zu erteilen? Da wären sie nicht die Ersten. Mittwochabend, Sommerloch-Wiederholung des SDR-„Tatorts“ „Rot – rot – tot“ aus dem Jahr 1978 im SWR Fernsehen. Kommissar Lutz zu Assistent Wagner: „Irre haben kein Motiv. Bis auf das, was ihren Irrsinn ausmacht.“

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