Filmfestspiele in Venedig enden: Der „Joker“ triumphiert
Siegreiche Psychobiografie, ausgezeichneter Polanski, Klimawandel vor der Tür – das ist die Bilanz der Filmfestspiele Venedig.
Zum Schluss kam sogar noch die Politik auf den roten Teppich. Am Sonnabendmorgen hatten sich Demonstranten vor der Sala Grande der Filmfestspiele von Venedig niedergelassen, um gegen den Klimawandel zu protestieren, ebenso gegen die grandi navi, die monströsen Kreuzfahrtschiffe, die der Lagunenstadt zusetzen. Da das Festival aus Sicherheitsgründen alle Kinosäle gesperrt hatte, sah es zunächst ganz so aus, als könnte das Filmprogramm nicht oder allenfalls verzögert starten. Irgendwann öffneten sich dann aber doch die Türen für das Publikum, während draußen die Besetzung des roten Teppichs weiterging.
Um den außer Konkurrenz gezeigten Kunstthriller „The Burnt Orange Heresy“ von Giuseppe Capotondi, der an dem Morgen lief, wäre es dabei nicht allzu schade gewesen. Zwar kann man den schwedischen Schauspieler Claes Bang und die Australierin Elizabeth Debicki darin zusammen mit Donald Sutherland und Mick Jagger in Bestform erleben, doch die Betrugsgeschichte rund um die Abgründe von Kunstkritik und Kunstmarkt erwies sich am Ende selbst als dürre Mogelei, deren Verwirrungsgeflecht rasch in sich zusammenfällt.
Überhaupt wurden in diesem Jahr einige Erwartungen enttäuscht durch bemerkenswert schwache Beiträge von verdienten Regisseuren, allen voran dem Franzosen Olivier Assayas, der mit „Wasp Network“ ein Kapitel kubanischer Geheimdienstgeschichte zum blassen Figureneinerlei gerinnen ließ.
Auch sein kanadischer Kollege Atom Egoyan verlor sich in „Guest of Honour“ in einer wenig einnehmenden, dafür umso gequälteren Familienerzählung, die um Fragen von Schuld kreiste. Und der Japaner Hirokazu Koreeda blieb mit seinem in Frankreich gedrehten Eröffnungsfilm „La vérité“ ebenfalls deutlich hinter seinem Cannes-Siegerfilm „Shoplifters“ vom vergangenen Jahr zurück.
Spontan-Favorit „Joker“
Die wenigen starken Beiträge des Wettbewerbs gingen dafür fast alle verdient siegreich aus dem Rennen. Immer wieder war Todd Philips’ „Joker“ während des Festivals von Besuchern spontan als Favorit genannt worden, und tatsächlich hat die Comicverfilmung mit Joaquin Phoenix als dauerlächelndem Gegenspieler von Batman vieles zu bieten, was die Verleihung des Goldenen Löwen an diese finstere Psychobiografie rechtfertigt.
Da ist zuallererst der Hauptdarsteller, der, in stark abgemagerter Gestalt, einen leidenden Außenseiter gibt, der von Anfang an durch sein auffälliges Verhalten – unkontrolliertes, meckerndes Gelächter – befremdet, darin aber immer als verletzte und verletzliche Seele kenntlich wird. Als einer, den als Kind die Verhältnisse gebeutelt haben und der jetzt, wo er als Erwachsener mit Blessuren durchs Leben schwankt, weiter an den Verhältnissen zerbricht. Bis er zurückschlägt.
Joaquin Phoenix markiert das im Gang seiner Figur, in der in sich zusammengefallenen Körperhaltung und eben immer wieder mit diesem Lachen, das den angehenden Joker weiter von seinen Mitmenschen isoliert. Die grauschlierige, unwirsch schrammende Musik der Isländerin Hildur Guðnadóttir grundiert diese ausweglose Stimmung, von der Kamera zugleich mit bleiernen Farben eingefangen.
Ob „Joker“ auch der große sozialkritische Film ist, als der er mitunter bezeichnet wird, ist eine andere Frage. Man kann in der Geschichte eine Illustration des materialistischen Gedankens sehen, dass das gesellschaftliche Sein das – in diesem Fall pathologische – Bewusstsein bestimmt.
Empfohlener externer Inhalt
Der Favorit vieler Zuschauer*innen: „Joker“
Doch wird die Angelegenheit dadurch unnötig kompliziert, dass Philips den Joker zusätzlich zum Anstifter einer Protestbewegung stilisiert, die dessen Mord an drei Wall-Street-Managern zum Anlass von Gewaltausbrüchen nimmt. Mit Clownsmasken, die an eine unmotivierte Mischung aus Occupy Wall Street und der Anonymus-Bewegung denken lassen. Dass sie in dieser Geschichte von einem psychisch kranken Mörder inspiriert sind, könnte man jedenfalls auch gegen diese Proteste gewendet lesen.
Kontrovers und filmisch groß
Die Stärken des Films überwiegen gleichwohl. Genauso wie die von Roman Polanskis Geschichtsdrama „J’accuse“ über die französische Dreyfus-Affäre. Polanski, dessen Beitrag im Wettbewerb schon im Vorfeld kontrovers aufgenommen wurde, hat sich, bei allen berechtigten Einwänden gegen seine Person, als nach wie vor großer Filmemacher behaupten können.
Mit einer historisch detaillierten Nachzeichnung der Prozesse gegen den vermeintlichen Spion Alfred Dreyfus, die als humanistischer Appell selbst die sehr wahrscheinliche Intention Polanskis übersteht, sich damit gegen seine eigene Verurteilung in den USA wegen Vergewaltigung zu verteidigen. Der Große Preis der Jury für den konventionell gehaltenen, jedoch dramaturgisch virtuosen Film war daher gerechtfertigt.
Trotz aller gegenwärtigen Neigung, Werk und Person in eins fallen zu lassen, ist „J’accuse“ ein Beispiel dafür, an dem sich nachvollziehen lässt, dass die Dinge womöglich komplizierter liegen.
Erfreulich auch, dass der Schwede Roy Andersson für seinen sperrigen Stil, dem er in seinem jüngsten Film, „About Endlessness“, weiter treu geblieben ist, den Silbernen Löwen für die beste Regie bekommen hat. In kurzen 76 Minuten brachte der Regisseur, der seine blass geschminkten Figuren gern in Tableau-vivant-artige Szenen setzt, stellt oder legt, eine Menge existenzieller Fragen und lakonischen Witz unter, machte aus Langeweile Komik und ließ seinen Film darin nie redundant wirken. Von diesen mutigen Filmen hätte es gern noch ein paar mehr geben können.
Widmung für die Seenotretter*innen
Der Chilene Pablo Larraín hatte mit „Ema“ zwar ein optisch opulentes, erzählerisch überraschendes und mit kluger Botschaft versehenes Plädoyer für offene Familienkonzepte präsentiert, blieb aber ohne Preis. Sein italienischer Kollege Pietro Marcello hatte für seine freie Verfilmung des Jack-London-Romans „Martin Eden“ ebenso eine künstlerisch anspruchsvolle Form mit vermischten geschichtlichen Ebenen gewählt.
Hauptdarsteller Luca Marinelli erhielt für seine differenzierte Charakterzeichnung der Titelrolle, eines Seefahrers, der zum Schriftsteller wird, sehr verdient die Coppa Volpi als bester Darsteller. In seiner Dankesrede nutzte der Schauspieler die Gelegenheit, um den Preis allen Personen zu widmen, die sich im Mittelmeer für die Rettung von Migranten eingesetzt haben.
Ein spätes Highlight im Wettbewerb kam ebenfalls aus Italien, „La mafia non è più quella di una volta“ von Franco Maresco. Dieser „satirische Dokumentarfilm“ nimmt das 25. Jubiläum des Gedenkens an die Mafia-Morde an den beiden Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino zum Anlass, sich mit sehr skurrilen Formen der Erinnerung durch die Sänger des sogenannten Neomelodico, einer Wiederbelebung der Canzone Napoletana, in Palermo zu beschäftigen. Mit Sängern, die vor der Kamera angeben, sie würden öffentlich keine Äußerungen wie „No alla mafia“ abgeben.
Obwohl die Protagonisten mutmaßlich alle echte Personen sind, weiß man bei Maresco fast nie, was dokumentarisch und was inszeniert ist, ob man über wahre Aussagen oder reine Witze lacht. Was bleibt, ist ein geschickt getriggertes Gefühl des Unbehagens.
Von derlei eigensinnigen Filmen gab es zum Glück weitere in den Nebensektionen. Jayro Bustamantes „La llorona“ zum Beispiel, der als Bester Film der Sektion „Giornate degli autori“ ausgezeichnet wurde. Ein wunderbar zwischen Wirklichkeit, Traum und Spuk changierendes Drama über die Morde an Indigenen in Bustamantes Geburtsland Guatemala, das auch im Wettbewerb eine gute Figur gemacht hätte. Oder das Regiedebüt des japanischen Schauspielers Joe Odagiri, „They Say Nothing Stays the Same“. Eine poetische Reflexion über Beschleunigung am Beispiel eines Fährmanns im frühen 20. Jahrhundert, in der die toll gefilmte Landschaft genauso ein Protagonist ist wie die darin ansässigen Geister. Es scheint, als sei die insgesamt erfolgreiche Positionierung des Festivals als Lieferant für spätere Oscar-Gewinner hier und da noch ergänzungsfähig.
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