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Filmfestspiele in CannesBereit, das eigene Kind zu opfern

Gewalt ist ein zentrales Thema bei den Filmfestspielen in Cannes. Es geht unter anderem um Homophobie im Donaudelta und Umbrüche in China.

Zhao Tao in Jia Zhangkes Film „Caught by the Tides“, der ein Vierteljahrhundert umspannt Foto: Filmfestspiele Cannes

Auf den Straßen von Cannes ist es, vom üblichen Festivalgewusel einmal abgesehen, einigermaßen ruhig. Man kann im Zentrum und der Altstadt rund um den Festivalpalast aber vereinzelt Plakate finden, die Kritik am Festival üben oder direkt auf #MeToo-Vorwürfe eingehen. Auf einem Werbekasten etwa fordert ein minimalistisch gehaltener weißer Anschlag mit einer Karikatur des künstlerischen Leiters Thierry Frémaux, dass dieser seinen Posten nach 23 Jahren räumen möge. Ganz ähnlich gestaltet, verlangt ein anderer die Entlassung des Produzenten Dominique Boutonnat, Präsident des Centre national du cinéma et de l’image animée (CNC). Gegen ihn wird wegen sexueller Gewalt ermittelt.

Andere Formen von Gewalt beherrschen dafür die Leinwand im Wettbewerb der Filmfestspiele. Die Regisseurin Coralie Fargeat lässt in „The Substance“ den alternden Fitness-Star Elizabeth Sparkle (Demi Moore) ganz direkt gegen eine jüngere Version ihrer selbst namens Sue (Margaret Qualley) antreten. Möglich ist dies durch die titelgebende Substanz, die eine spontane Genverdopplung bewirkt.

Das Narzissmus-Thema von Oscar Wildes „Das Bildnis des Dorian Gray“ wird bei Fargeat in den Zusammenhang der heutigen Selbstoptimierungsideologie gestellt. Das alles mit sehr drastischen Mitteln des Body Horror und Splatter. Man sieht unschöne Körpereingriffe und -veränderungen, und bei der Verwendung von Kunstblut scheint Fargeat einen neuen Rekord aufstellen zu wollen. Den platt ausgeführten Plot macht ihr cartoonesker Gewaltexzess allerdings nicht interessanter.

Ein Junge wird verprügelt

Andere Regisseure nehmen sich gesellschaftlicher Fragen weniger plump an. Das Drama „Three Kilometres to the End of the World“ von Emanuel Pârvu erzählt von Homophobie und Korruption in einem abgeschiedenen Dorf im Donaudelta. Ein Junge wird verprügelt, und keiner weiß zunächst, warum. Nach und nach legt der Film die Verstrickungen unter den Bewohnern offen, in denen auch die Eltern feststecken. Diese scheinen eher bereit, ihr Kind für das Ansehen der Erwachsenen zu opfern, als sich mit der Aufklärung des Falls zu beschäftigen. Pârvu erweckt zwischendurch den Eindruck, als suche er ebenfalls nach Drastik, behält am Ende jedoch seinen trocken beobachtenden Stil bei, was ihn zu einem der stärkeren Filme im Wettbewerb macht.

Auch der chinesische Regisseur Jia Zhangke kann mit „Caught by the Tides“ überzeugen, selbst wenn seine 25 Jahre umspannende Geschichte es nicht darauf anlegt, dass man in jedem Moment den Überblick behält. Wie in seinen vorangegangenen Filmen begleitet Jia Zhangke die großen jüngeren Umbrüche in China, vom Baubeginn der gigantischen Drei-Schluchten-Talsperre Mitte der Neunziger, für die mehrere Städte geflutet wurden, über den Immobilienboom zu Beginn des Jahrhunderts bis in die maskenbewehrte Coronapandemie 2022.

Im Zentrum der Handlung steht Qiao Quiao, wie schon in „Asche ist reines Weiß“ (2018) gespielt von seiner Frau Zhao Tao. Ihre Hauptfigur begibt sich auf die Suche nach ihrem früheren Freund Guao Bin, der in eine andere Provinz gezogen ist. Für den Film hat Jia Zhangke teils Material von Dreharbeiten für frühere Arbeiten verwendet, mitunter ändert sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt etwa das Format auf der Leinwand. So fasziniert „Caught by the Tides“ nicht zuletzt als Dokument der Transformation des Landes und der Dinge, die darin auf immer verschwanden.

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