Filmfestspiele Venedig: Akrobaten turnen im Kreml
Lidokino 6: Regisseur Jim Jarmusch blickt etwas altersmüde auf Familien. Olivier Assayas macht dagegen zu gute Unterhaltung über Russland bei den Filmfestspielen.

U m den neuen Spielfilm von Jim Jarmusch hatte es im Vorfeld Rätselraten gegeben. Im Frühling wollten Branchenblätter gewusst haben, dass er für Cannes vorgesehen sei. Da Jarmusch dort regelmäßig mit seinen Filmen in den Wettbewerb eingeladen wurde, schien es sicher, dass auch „Father Mother Sister Brother“ dort antreten würde. Am Ende lief er nicht in Cannes. Stattdessen feierte er jetzt in Venedig Premiere, wo man ihn des Wettbewerbs für würdig erachtete. Wo sonst?
Zwar hat Jarmusch mit der schwermütigen Familienkomödie keinen Höhepunkt seines Spätwerks beigesteuert, doch gab es in diesem Rennen um den Goldenen Löwen bisher schon weniger geglückte Kandidaten. „Father Mother Sister Brother“ ist ein Episodenfilm, der verschiedene Konstellationen der im Titel aufgelisteten Familienteile durchspielt.
Schon wieder Tee
In der ersten Geschichte sind das Bruder und Schwester, die den Vater besuchen. Adam Driver und Mayim Bialik spielen die erfolgreichen Geschwister, während Tom Waits den Part des schrulligen ärmlichen Vaters im Ruhestand übernimmt. Die Atmosphäre ist steif, das zwischen den Versammelten Unausgesprochene hängt bleischwer über der Szenerie.
Daran kann auch das Zuhause des Vaters, ein freundliches helles Holzhaus in New Jersey mit Blick auf einen See, nichts ändern. Jedes Gesprächsthema, vom Wasser, das sie trinken, bis zum Tee, den die Schwester schließlich zubereitet, besteht vor allem aus peinlichen Pausen. Die Komik kommt bei Jarmusch insbesondere durch das trockene Bloßstellen der Absurdität der Situation zustande, gelegentliche Albernheiten inklusive.
So auch in der zweiten Episode, in der eine Mutter in Dublin ihre Töchter zum Tee erwartet. Charlotte Rampling gibt die höchst stil- und formbewusste Mutter, als Töchter kommen Cate Blanchett und Vicky Krieps zu Besuch. Wieder eine steife Atmosphäre, wieder eine Kommunikation, in der Offenheit unbekannt zu sein scheint.
Bloß wirken diesmal beide Töchter übertrieben gekünstelt, sie scheinen in ihren absichtlich gegen ihren Typ gestalteten Kostümen zu verschwinden. Wieder Gespräche über Wasser und Tee, selbst einzelne Sätze aus der ersten Episode werden wiederholt, wenngleich leicht abgewandelt.
Als Ausklang ein Zwillingspaar, verkörpert von Indya Moore und Luka Sabbat. Die Eltern sind vor Kurzem gestorben, der Bruder hat die Wohnung entrümpelt, die Schwester ist gekommen, um einen Blick in die leeren Räume zu werfen.
Abschiednehmen
Hier ist die Idee des Abschiednehmens von den Eltern dominierend, der Witz am spärlichsten, obwohl auch hier erneut über Wasser gesprochen wird. Jarmusch wiederholt damit nicht allein Elemente dieses Films, wie er stets gern getan hat, er zitiert zudem ausgiebig sich selbst, von „Night on Earth“ bis „Coffee & Cigarettes“. Ein bisschen altersmüde, das alles.
Sehr viel will dafür Olivier Assayas mit seinem Wettbewerbsfilm „Le mage du Kremlin“ über den fiktiven Russen Wadim Baranow. Man folgt darin Paul Dano in der Rolle dieses One-Man-Thinktanks, der eine Karriere vom Moskauer Theaterregisseur zum Berater Wladimir Putins hinlegt, durch alle Höhen und insbesondere Tiefen der Geschichte Russlands nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Der Film, eine Adaption des gleichnamigen Romans von Giuliano da Empoli, ist prominent besetzt, mit Jude Law als Putin und Alicia Vikander als Baranows Freundin Ksenia. Selbst der Musiker Thurston Moore, der auch Teile des Soundtracks geschrieben hat, ist in einem Cameo-Auftritt als Synthesizerspieler im wilden Moskau der frühen Neunziger zu sehen.
In einem Interview, das Baranow einem amerikanischen Autor gibt (Jeffrey Wright), lässt Assayas die Entwicklung des Systems Putin vorüberziehen, von den Sprengstoffanschlägen auf Wohnhäuser in Russland 1999 bis zu den russischen Trollfabriken. Fast alles davon ist in diesem Fall von Baranow erdacht oder zumindest maßgeblich mitentwickelt.
Paul Dano als charmanter Zyniker der Macht erscheint mit seinen leicht runden Zügen durchaus plausibel besetzt, doch die Abgründe der Macht in Russland geraten, bei aller Ausführlichkeit ihrer Schilderung, durch die Ästhetisierung als packender Thriller in ihrer realen Grausamkeit eher in den Hintergrund. Man fühlt sich unangemessen „gut unterhalten“.
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