Filmfestival Cannes: Frauen am Rand
19 Filme, 19 Regisseure – Cannes-Jury-Präsident Tim Burton "weiß nicht, wie die Auswahl vonstatten ging". Auf andere Gedanken bringen einen die Stars der Neo-Burlesque-Szene.
19 Filme laufen in diesem Jahr im Wettbewerb. Keiner davon stammt von einer Frau. In der Nebenreihe "Un certain régard" laufen ebenfalls 19 Filme, einen davon hat eine Frau gedreht. Eine Journalistin vom Guardian erkundigt sich nach dieser Asymmetrie, während die Wettbewerbsjury bei einer Pressekonferenz Rede und Antwort steht.
Tim Burton, der Präsident der Jury, sagt: "Ich weiß nicht, wie die Auswahl vonstattenging." Er verweist auf die große Zahl von weiblichen Führungskräften in den US-amerikanischen Studios und darauf, dass Geschlecht und Herkunft keine Rolle spielten. Die beiden Frauen auf dem Podium, die Schauspielerinnen Kate Beckinsale und Giovanna Mezzogiorno, schweigen.
Der Moderator Henri Behar versucht sich an einer Antwort: Solange keine Filmemacherinnen vertreten seien, sagt er, fehlten eben auch die spezifischen Perspektiven von Frauen. Der indische Regisseur und Produzent Shekhar Kapur widerspricht ihm: "Wer keinen Zugang zu seiner männlichen wie zu seiner weiblichen Seite hat", sagt er, der sei als Filmemacher ohnehin zum Scheitern verurteilt.
Auf die Frage, wie sich die beiden weiblichen Jury-Mitglieder gegenüber den sieben männlichen Mitgliedern fühlen, antwortet Beckinsale: "Es stört mich nicht." Mezzogiorno ergänzt: "Wie viele Frauen, wie viele Männer - das ist ein Aspekt, den ich normalerweise nicht beachte."
Selbstverständlich lässt sich ein Filmfestival nicht via Quotenregelung organisieren. Doch ohne Sensibilität in dieser Frage wird sich nie etwas an den ungleichen Verhältnissen ändern. Dabei gäbe es so viele Möglichkeiten: Statt des italienischen Regisseurs Marco Bellochio etwa könnten Kathryn Bigelow oder Agnès Varda die Kino-Masterclass anbieten.
Neben den zwei wenig eloquenten Schauspielerinnen könnte eine Produzentin oder eine Regisseurin in der Jury sitzen - warum nicht Christine Vachon oder Kelly Reichhardt? Wenn die Jury meint, das Geschlecht spiele keine Rolle, so mag dies eine schöne Utopie sein. Mit dem Status quo an der Croisette hat das recht wenig zu tun. Und die Utopie, die den Status quo nicht zur Kenntnis nimmt, führt in die Irre.
Da braucht es schon ein paar Stars der Neo-Burlesque-Szene, um auf andere Gedanken zu kommen. Frauen vom Schlag einer Mimi Le Meaux, einer Kitten on the Keys oder einer Dirty Martini. Die drei haben als Performerinnen in den USA den Burlesque-Tanz wiederentdeckt und feministisch umgedeutet.
Sie setzen ihre Körper in Szene, ohne auf Schönheits-, Jugendlichkeits- und Schlankheitsideale zu achten. Pfunde und Falten sind begehrenswert, Speckrollen sexy, Orangenhaut ist kein Grund, die Beine zu verstecken. Zusammen mit einigen anderen Stars der Szene agieren die drei in Mathieu Amalrics Wettbewerbsbeitrag "Tournée" - nicht unbedingt als sie selbst, doch ihre Rollennamen sind durchaus identisch mit ihren Performerinnennamen.
Im Regionalzug touren sie an der Atlantikküste entlang gen Süden; Le Havre, Nantes, La Rochelle, Bourdeaux sind die Stationen. Ein Füllhorn aus Federboas, Troddeln, Pailettenunterwäsche, falschen Wimpern, Feinstrümpfen und High Heels ergießt sich über "Tournée" - ganz so, als hätten die biologischen Frauen den Fundus der Dragqueens geplündert.
Leider geht es in "Tournée" nicht um sie. Im Mittelpunkt steht Amalric selbst beziehungsweise der von ihm gespielte Impresario, ein so neurotischer wie charismatischer Charakter. Vor Jahren ging er aus Frankreich fort. Jetzt holt ihn die Vergangenheit ein, was der Film recht vorhersehbar in Szene setzt. Bisweilen wechselt "Tournée" brüsk den Tonfall, etwa wenn ein derber Scherz auf Kosten einer Supermarktkassiererin geht. Das Wesen von Neo-Burlesque liegt darin, dass die Performerinnen bestimmen, was schön ist. Für die Dauer dieser Szene hat der Film das vollständig aus den Augen verloren.
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