Filmemacher Kaan Müjdeci: Ein Hund, ein Kind, kein Geld
Der Berliner Regisseur ist nicht nur als Künstler findig, sondern auch als Unternehmer. Sein Debüt „Sivas“ erhielt in Venedig gleich den Spezialpreis.
Wenn Kaan Müjdeci das Wort „lernen“ sagt, klingt es charmant, so, als würde er das englische „learn“ deutsch konjugieren. Er benutzt das Wort oft. „Ich wusste nicht, wie man eine Bar macht oder einen Modeladen. Ich lerne.“ Oder: „Es war schwer, aber ich lerne, wie man mit wenig Geld so ein Projekt machen kann.“ Oder: „Ich habe gelernt, mit den Augen eines Kindes zu gucken.“
Die Bar heißt Luzia und liegt an der Oranienstraße in Berlin-Kreuzberg. Der Modeladen heißt Voo Store und liegt auch an der Oranienstraße, in einem Hinterhaus, drei Minuten Fußweg von der Bar entfernt. Hier war mal eine Schlosserei, heute kann man in dem großen Raum Kleidungsstücke von Designern aus Stockholm, Kopenhagen, Paris oder Berlin erwerben, zum Beispiel fröhlich gemusterte Socken von Henrik Vibskov oder Kimono-ähnliche Kurzmäntel von Reality Studio. Im Sommer gab es einige Stücke aus der Kollektion von Hien Le, Farben und Muster erinnerten an Stan Brakhages Experimentalfilm „Mothlight“.
Die Bar wie den Laden betreibt Müjdeci zusammen mit seinem jüngeren Bruder Yasin. Auch das Projekt, das er mit wenig Geld umzusetzen gelernt hat, hat sich aus der Zusammenarbeit mit dem Bruder entwickelt. Bei dem Spielfilm „Sivas“ führte Kaan Müjdeci Regie, und Yasin Müjdeci besorgte die Produktion.
„Sivas“ spielt in einem Dorf in Anatolien und handelt von einem Jungen, der einen Hund pflegt, nachdem der bei einem Hundekampf verletzt worden ist. Es ist ein Kangal, ein Hirtenhund, er hat ein helles Fell und dunkle Linien im Gesicht, ist mindestens so groß wie das Kind und dreimal so wuchtig, ein Hund zum Fürchten, nicht zum Streicheln.
Zur harten Welt des Dorfes gehören
Sobald das Tier genesen ist, gibt der Junge Aslan (Dogan Izci) mit ihm an, um sich Anerkennung im patriarchal geprägten Dorf zu verschaffen. Je präpubertär-machohafter er sich dabei aufführt, umso weniger taugt der Junge zum Sympathieträger. „Sivas“ legt den Protagonisten nicht als Kind mit großem Herzen und niedlichem Blick an, sondern als eine Figur, die partout zur rauen, harten Welt des Dorfes dazugehören möchte. Die Ambivalenz macht einen Teil des Reizes von „Sivas“ aus.
Im September lief der Film im Wettbewerb der Filmbiennale von Venedig. Bei einem Telefonat betont Alberto Barbera, der Direktor des Festivals, Müjdecis „großes Talent“; der Film besitze „die Fähigkeit, die Komplexität und die Widersprüchlichkeit eines Landes darzustellen, das sich im Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft befindet“.
Barbera spricht auch von dem Risiko, das darin liegt, ein Debüt im Wettbewerb eines großen Filmfestivals zu programmieren. Denn wenn das Publikum und die Kritiker den Film ohne Wohlwollen aufnehmen, wenn sie sich auf die Schwächen statt auf die Stärken konzentrieren, dann kann die gerade erst begonnene Karriere an Grenzen stoßen, weil die Aufmerksamkeit, die mit dem prominenten Platz einhergeht, als Last auf das Debüt zurückfällt.
Geglückte Gratwanderung
Es gebe einen „schmalen Grat zwischen dem richtigen und dem falschen Weg, einen jungen Filmemacher zu unterstützen“, sagt Barbera. Im Fall von „Sivas“ ist die Gratwanderung geglückt. Der Film wurde positiv aufgenommen, das Branchenblatt Variety zum Beispiel lobte Müjdecins „ruhigen, sorgfältigen, dokumentarischen Blick“ sowie die beeindruckende Kameraarbeit von Armin Dierolf und Martin Hogsnes Solvang. Und auch die Juroren ließen sich überzeugen. „Sivas“ erhielt den Spezialpreis der Jury.
Das ist umso bemerkenswerter, als Müjdeci das Filmemachen nicht an einer Filmhochschule gelernt hat. „Nein, die dffb hat mich nicht genommen, wie Fassbinder“, sagt er, als wir uns an einem Herbstnachmittag an einem Kaffeehaustisch im Voo Store gegenübersitzen. Müjdeci ist gerade aus Istanbul gekommen und wird am nächsten Tag nach Hamburg weiterreisen, da „Sivas“ beim dortigen Filmfestival läuft.
Er ist 34 Jahre alt, seit elf Jahren lebt er in Berlin; er trägt ein blaues Hemd, einen Bart, das Haar ist schwarz und lockig, und er wirkt nicht wie jemand, der sich von Rückschlägen erschüttern lässt; eher wie jemand, der darauf vertraut, dass die Dinge einen guten Lauf nehmen werden, solange man einfallsreich und unternehmungslustig bleibt.
Niemand kannte ihn
In Deutschland, erzählt er, habe er vergeblich um Finanzierung für „Sivas“ angesucht; aber in der Rückschau ärgert ihn das nicht, im Gegenteil, er äußert sogar ein gewisses Verständnis für die Ablehnung durch die Fördergremien. Niemand habe ihn gekannt, niemand habe ihm vertraut. „Hunde, ein Anatolier, Kinder … Wer glaubt dir, dass das ein Film wird, den du fertigstellen kannst? Niemand.“
Das Budget, 300.000 Euro, stammt aus türkischen Fördertöpfen und aus Gewinnen der Bar und des Ladens. Auf die Frage, ob ihn das Nebeneinander von unternehmerischer und kreativer Arbeit manchmal durcheinanderbringe, sagt er: „In der künstlerischen Sache bin ich sehr frei, ich denke dann nicht geschäftlich.“ Der Rest ist die Kunst des Delegierens.
Mut und Leidenschaft
Nachdem er Ende Juni, Anfang Juli den Rohschnitt von „Sivas“ gesehen habe, sagt Alberto Barbera, habe er Müjdeci sofort wissen lassen, dass er den Film im Programm haben wolle. Zu diesem Zeitpunkt war ihm noch nicht klar, welche Sektion am besten passen würde, der Wettbewerb oder Orizzonti, also die Programmschiene, die jüngeren, noch nicht arrivierten Filmemachern ein Forum bietet. Müjdeci „bestand auf einem Platz im Wettbewerb“, erinnert sich der Direktor, „ich bat ihn um ein wenig Geduld“. Kurz bevor das Programm der Filmbiennale bekannt gegeben wurde, reiste Müjdeci nach Venedig und machte Werbung in eigener Sache. Mit Erfolg. „Ich war beeindruckt von seiner Leidenschaft fürs Kino“, sagt Barbera, „von seinem Mut, alles auf diesen Film zu setzen.“
Müjdeci hat an einem Workshop der New York Film Academy teilgenommen und war 2011 beim Berlinale Talent Campus dabei. Als er neu in Berlin war, hat er auf einer Brache an einer viel befahrenen Straße in Kreuzberg ein Freiluftkino organisiert. Es war Sommer, die Flugtickets nach Ankara und Istanbul waren teuer, viele Kreuzberger konnten sich die Reise nicht leisten. Müjdeci zeigte türkische Klassiker und verkaufte Tee, und manchmal standen 400 Leute vor der Tür. Er selbst geht am liebsten ins Kino, wenn sonst kaum jemand drinsitzt; in Nachmittagsvorführungen zum Beispiel.
Bevor er „Sivas“ in Angriff nahm, hatte er kürzere Dokumentarfilme gedreht. Einer davon handelte von Hundekämpfen in Anatolien, nahm also das Sujet des Spielfilms vorweg. Die Kontakte, die er bei den Recherchen knüpfte, kamen Müjdeci zugute, als er nach Laiendarstellern und nach einem passenden Kangal suchte. Auch dass er das anatolische Yozgat, den Drehort, dessen Schmucklosigkeit die beiden Kameramänner hervorheben, gut kennt, hat ihm geholfen. Er hat dort immer wieder die Ferien verbracht. Seine Eltern fuhren an den Strand, er war mit seinem Bruder im Dorf und hütete Schafe. „Ich liebe die Landschaft und die Tiere und das Beschäftigtsein.“
„Lassie“ im Plastiskop
In einer Szene des Film schaut sich Aslan in einem Plastiskop Bilder aus „Lassie“ an. Man kann darin einen Kommentar zu „Sivas“ erkennen. Die Bilder in dem kleinen Apparat erzählen eine liebliche Version der Geschichte von Hund und Kind. In der anatolischen Steppe dagegen ist Platz für das Kontrastprogramm, für die ungeschönte Story.
Als ich Müjdeci nach dieser Szene frage, will er sie nicht kommentieren. „Das ist deine Entscheidung. Ich will nichts vorgeben. Meine Mutter sieht den Film und denkt etwas anderes, mein Onkel sieht wieder etwas anderes.“ Auch zu einer anderen Szene will er sich nicht äußern. Darin steigt Aslan auf das Dach eines Stalls, reißt sich das T-Shirt vom Leib und schreit seinen Vater und den älteren Bruder von oben herab an. Die Schönheit liegt in der Intensität des Wutausbruchs, in der überbordenden Fülle von Schimpfwörtern und darin, dass Müjdeci der Szene viel Zeit gibt. Wie kam das?
„Das ist sehr privat“, sagt Müjdeci und wechselt zu einer Anekdote vom Dreh. An einem Tag habe der Hund beobachtet, wie sich der ältere Bruder und Aslan anschreien. Natürlich hatte das Tier kein Bewusstsein davon, dass die Szene gespielt war. Danach war es schwierig, wenn der Hund dem Darsteller des großen Bruders über den Weg lief, weil er ihn beißen wollte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!